18.8.18

Ludwig², Festspielhaus Füssen

Flieg, Gedanke, flieg, eine neue Zeit ist nah!

Ludwig², das Musical, das durch seinen jahrelangen Kampf gegen eine Vielzahl monetärer Probleme nahezu ebenso sagenumwoben ist wie Ludwig II. selbst, läuft gerade in der aktuellsten Fassung in seiner Ursprungsstadt Füssen.


Während mich einzelne Szenen und Details von Ludwig² bei meinem ersten Besuch des Musicals am vergangenen Wochenende über alle Maßen beeindruckt haben, hat es leider vorrangig im 1. Akt in einigen prägnanten Punkten geschwächelt, was zum Teil möglicherweise an beschränkten finanziellen Mitteln liegt, zum Teil aber auch auf dramaturgische Fantasielosigkeit zurückgeführt werden kann.

Ludwigs Festspielhaus – Die Technik:

Ludwig² war für mich das erste Musical, in dem die Musik vom Band kommt – was am qualitativen Gesamteindruck, den das Stück per se hinterlässt, im Endeffekt nichts verändert, für Fans von Konstantin Wecker, Nic Raine und Christopher Franke, die deren Musik gerne live hören möchten, aber durchaus wissenswert ist. Der Dirigent, der im Orchestergraben zu sehen ist, dirigiert nur die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, für die restliche Beschallung sind die Tontechniker zuständig.
Leider führt das Stichwort Tontechnik zum nächsten wunden Punkt des Musicals: der Aussteuerung. Von der laut dem Ludwig²-Programmheft „ausgezeichneten“ Akustik merkt man leider nicht viel, wenn man die Darstellerinnen und Darsteller oftmals nur unzureichend versteht – vor allem in jenen Szenen, in denen sie auf der Bühne versuchen, die sehr geräuschvolle Hintergrundmusik mit Gesprächen zu übertönen.

Positiv anzumerken in Bezug auf Ausstattung und Technik ist in erster Linie die beeindruckende, bis weit in die Tiefen des Festspielhauses zurückreichende Bühne, unter der sich der hauseigene See befindet, der hervorragend genutzt wird: Das Gewässer, dessen Tiefe von knietief bis (scheinbar) mehrere Meter reicht, und das vor allem in den finalen Szenen des Stückes, die am Starnberger See spielen, eine wichtige Rolle innehat, sorgt zwischendurch immer wieder mit Nebel bedeckt für eine zum Stück passende, mystische Atmosphäre. Weiters wird der See einige Male gewinnbringend dazu eingesetzt, die Bühne in zwei Ebenen zu teilen, damit im Hintergrund am gegenüberliegenden Ufer ein zusätzlicher Handlungsstrang gewoben werden kann.
Selbst die etwas überflüssige Tänzerin im Wasser bei Mein Ritter leistet einen inhaltlichen Beitrag zum Musical, wenn sie in ebenjenem Lied Ludwig im Kindesalter in ein Boot setzt und dieses über den See hinweg zum erwachsenen Ludwig, der am hinteren Bühnenrand auf sein Alter Ego wartet, bugsiert.

Ebenfalls punkten kann Ludwig² mit äußerst imposanten Farbeffekten, die zuweilen die gesamte Stimmung einer Sequenz beherrschen und von einem Moment auf den nächsten komplett verändern können. Als Beispiel sei hier die visuell überwältigende, komplett in tiefrotes Licht getauchte Szene genannt, in der Elisabeth (Anna Hofbauer) in einem Blütenregen Rosenkavaliere singt. Diese Farbe und deren Ausstrahlung wird wenig später in jener Szene in der der König mit Das Auge nass wegen der Trennung von Elisabeth trauert, eindrucksvoll mithilfe des von der Decke hängenden tiefroten „Königsmantels“ eingefangen und reflektiert. 

Ludwig² – Der Inhalt: 

Bei den meisten Musicals dauert die erste Hälfte vor der Pause länger, während die zweite Hälfte deutlich kürzer ist. Ludwig² ist für mich das erste Stück, bei dem dies umgekehrt ist – zum Glück, muss hier paradoxerweise gesagt werden, da die einzelnen Zahnräder der verschiedenen Abschnitte des Lebens des jungen Königs mehr schlecht als recht ineinandergreifen. Knapp die Hälfte des 1. Akts beschäftigt sich mit dem Aufwachsen des Prinzen im Hause Wittelsbach und danach muss man Ludwig bis zur Pause dabei zusehen, wie er Elisabeth nachläuft. 
Das Problem ist nicht, dass die Übergänge zwischen den hier porträtierten Lebensabschnitten Ludwigs II. nicht flüssig wiedergegeben sind, sondern vielmehr, dass im Musical auf Vorkommnisse angespielt wird, die beim Publikum, das vor dem Besuch keine passende Biographie gelesen hat, ein Bedürfnis nach näherer Erklärung aufkommen lassen.
Zusätzlich zum Gefühl inhaltliche Löcher überspringen zu müssen, hat man als Zuschauerin und Zuschauer im 1. Akt oft den Eindruck, dass die vom Musical evozierten Emotionen auf der Stelle stehen bleiben bzw. im Kreis laufen (Rosenkavaliere: unglücklich verliebt sein; In Palästen geboren: einschränkende Lebensumstände, unglücklich verliebt sein; Das Auge nass: Abschied nehmen, sich von der Vergangenheit lossagen; Mein Engel: nach vorne schauen; sich von der Vergangenheit lossagen).

Rare dramaturgische Schwachstellen, die für ein leichtes Gefühl der Unsicherheit und der Repetition sorgen, sind für gewöhnlich nicht tragisch. Wenn sie sich allerdings – wie bei Ludwig² – häufen, dann wird der Flow des Stückes dadurch maßgeblich beeinträchtigt. 
Diese Tatsache kann natürlich auch darauf zurückgeführt werden, dass man von dutzenden klarer strukturierten Musicals verwöhnt ist, und dass manches in Ludwig² mit Absicht der Interpretationsfreiheit der Zuschauerinnen und Zuschauer überlassen wird. Allerdings gibt es viele biografisch angehauchte Musicals, die bedeutend weniger Jahre zur Entwicklung ihres Inhalts Zeit hatten, deren Handlungsabläufe mir aber als wesentlich vollständiger erscheinen.

Im 2. Akt sind die inhaltlichen Abläufe um vieles besser als im 1. Akt: Es geht um den Krieg gegen Preußen und später gegen Frankreich, um die Verschwörung der bayrischen Ministerräte und Ludwigs „Geisteskrankheit“. Auch hier gibt es ein paar dramaturgische Durchhänger, aber die dicht gedrängte, direkt aus der europäischen Geschichte entnommene Dramatik hat es Autor Rolf Rettberg scheinbar erleichtert, diesen Teil von Ludwigs Leben in ein inhaltlich schlüssiges Bühnenwerk umzuwandeln. 
Am herausragendsten sind im 2. Akt Abend für Abend: So kalt mein Herz, Kalte Sterne, Schwarze Schatten (mit Dennis Henschel als phänomenalem Schattenmann) und Geliebte Berge. Letztgenanntes ist das „Abschiedslied“ des Königs am Ufer des Starnberger Sees, sein Trauergesang auf sein eigenes Leben und all die geplanten Vorhaben zugunsten der Kunst, die er nicht vollbringen konnte. Dies ist einer der ergreifendsten Momente des Musicals, in dem der Liedtext – wie beim Großteil aller Lieder des Stückes – perfekt nach Füssen und zu dem, was wir heute über Ludwig II. wissen, passt.

Der gesamte mitreißende 2. Akt von Ludwig² lebt von der Persönlichkeit des erwachsenen Königs, die aufgrund des tiefgründigen Inhalts weitaus facettenreicher ausfällt als jene des 1. Akts. Diese singuläre Figur, deren politischem Fall und Sturz ins Verderben man hier beiwohnt, hat im zweiten Abschnitt das Stück vollends zu tragen und beherrscht die Bühne mit je nach Darstellervorliebe mal mehr, mal weniger wankelmütigem Naturell.
Da Ludwig² als eine Art „Nationalmusical“ Bayerns bezeichnet werden könnte, wird der König wie erwartet als vorrangig exzentrisch und nicht als „geisteskrank“ porträtiert – und der Grad der Exzentrik ist dankenswerterweise dem jeweiligen Hauptdarsteller überlassen.

Jan Ammann und Matthias Stockinger – Die Hauptdarsteller

Jan Ammann spielt den König mit einer Souveränität, die verrät, dass ihm diese Rolle im Lauf des letzten Jahrzehnts schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Was allerdings nicht bedeutet, dass man ihm den zu Beginn noch verträumten und ohne Zurückhaltung schwärmenden Ludwig abnimmt – Jan Ammanns Schauspiel beweist sich vorrangig im 2. Akt, wenn er den bereits verbitterten und von der Welt enttäuschten König spielen darf. Sein Ludwig ist sehr unnahbar und melancholisch, was den Absturz in seinen zwischen  heiterem Übermut und tiefer Trauer schwankendem „Wahnsinn“ noch deutlicher aufzeigt und signifikant erschreckender macht.

Matthias Stockingers Ludwig ist von Beginn an ein weitaus expressiverer König, dem auch vor den ersten Anzeichen seiner „Geisteskrankheit“ schon Trauer, Verzweiflung, Freude und Liebe auf einen Blick anzumerken sind. Da man seinem ausdrucksstarken König so schnell hinter die Maske blicken kann, ist er am Ende ganz anders  bemitleidenswert als der völlig gebrochene Ludwig Jan Ammanns. Der schleichenden, abgrundtiefen Verzweiflung von Matthias Stockingers König wird man (wie die Figur selbst) erst nach und nach gewahr – wogegen man die relativ plötzlich eintretende, stoische Hilflosigkeit von Jan Ammanns Ludwig wie eine Faust in die Magengrube bekommt.

Beide Darsteller brillieren auf gänzlich unterschiedliche Eigenart in dieser Rolle: Jan Ammann scheint sich die meiste Zeit an gewisse Regievorgaben zu halten und ist gänzlich in seiner Rolle versunken, während Matthias Stockinger sich mehr Freiheiten zu nehmen scheint und  einige Male – soweit es die entsprechenden Szenen zulassen – direkt mit dem Publikum interagiert.
Es ist ein unbezahlbares Erlebnis, diese beiden Darsteller, die seit vielen Jahren so eng mit dieser Rolle verbunden sind, live erleben zu dürfen und so viele bemerkenswerte Unterschiede in ihrer Verkörperung des Königs entdecken zu können. Ins Gedächtnis brennen sich hier die beseelte Art und Weise auf die Jan Ammann mit seinem unvergleichlichen Timbre die Lieder von Ludwig² live intoniert genauso wie all die präzisierten schauspielerischen Nuancen, mit denen Matthias Stockinger Ludwig II. Leben einhaucht.

Wer sich das nicht entgehen lassen will, der kann die beiden Akteure noch bis Jänner 2019 in diesen Rollen in Füssen sehen – in einem Musical, das beim ersten Mal sowohl negativ als auch positiv überrascht und deshalb auf vielerlei Art sehr zum Nachdenken anregt. Und selbst wenn Ludwig² in Füssen ab und zu schwächelt, so überwiegt im Endeffekt die Begeisterung für ein musikalisches Denkmal, das einen weiteren Beitrag zu König Ludwigs II. Unsterblichkeit leistet – denn all die gelungenen Szenen, die berühren, berühren außergewöhnlich stark und lassen mich einfach nicht mehr los. Ich würde mir dieses Musical sofort noch einmal anschauen.


Kleines Detail am Rande:
Ludwigs Festspielhaus ist in diesem Sommer nicht (wie im Programmheft angekündigt) mit dem Schiff erreichbar, da der Forggensee aufgrund von Bauarbeiten am Staudamm des Lech zum Großteil unbefüllt ist.