Das „Skandalstück“ aus den 70er Jahren
„Equus“ ist ein Theaterstück des englischen Dramatikers Peter Shaffer aus dem Jahr 1973, in dem der Psychiater Martin Dysart versucht, die selbst erschaffene Theologie des 17-Jährigen Alan Strang zu verstehen, der in einem Anfall von religiösem Wahn seinem Gott Equus (lat. Pferd) die Augen aussticht.
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(c) Theater zum Fürchten |
Diesen November läuft das Stück in einer Inszenierung von Sam Madwar im Theater Scala. Das Wiener Theater macht seinen Fokus in „Equus“ von Beginn an klar: Zur Eintrittskarte kann man sich ein Programmheft gönnen, dessen Inhalt sich um die Frage Wie geht man mit Psychopathen um? dreht. Zudem kann man sich darin über einige der zahlreichen und verstörenden Defizite der österreichischen Kinder- und Jugendpsychiatrien informieren.
Wo das Stück früher aufgrund von viel nackter Haut und expliziten, religiösen Aufopferungsszenen, die bis zur Ekstase führen, schockiert hat, soll es heute wohl durch die Beschreibung der sozialen Umstände, die dazu führen, dass ein 17-Jähriger eine eigene Religion für sich erfindet, die sich im Verborgenen zu einer ausartenden Obsession entwickelt, auffallen. Dieser Standpunkt wird von Anselm Lipgens, der im Theater Scala Martin Dysart spielt, mit starker Intensität vermittelt, auch wenn der Psychiater selbst seine drängendsten Fragen nicht zufriedenstellend beantworten kann.
Ein weiteres zentrales Thema, um das sich die meisten Stücke Peter Shaffers drehen, tritt in „Equus“ vor allem bei Martin Dysarts Monologen, aber auch bei seinen Gesprächen mit der Richterin Heather Salomon (Christina Saginth), die ihn überredet hat, Alan zu behandeln, zutage: Die schleichende Erkenntnis, dass man die eigene Religion hinterfragen sollte, da man von der Gottheit, die man selbst anbetet, niemals das erfüllte Leben, das man sich eigentlich wünscht, erhalten wird. Den eigenen Glauben infrage zu stellen bzw. zu erkennen, dass der Glaube jener, die die menschliche Gesellschaft für „abnormal“ (Beispiel: „Equus“) oder sogar für „unwürdig“ (Beispiel: „Amadeus“, 1979) hält, erfüllender ist, als der eigene, ist immer eine welt-erschütternde Erkenntnis für Peter Shaffers Protagonisten, die nur selten lernen, damit umzugehen.
I sit looking at pages of centaurs trampling the soil of Argos – and outside my window he is trying to become one, in a Hampshire field! ... I watch that woman knitting, night after night – a woman I haven't kissed in six years – and he stands in the dark for an hour, sucking the sweat off his God's hairy cheek!
Was Martin Dysart im Lauf des Stückes noch zu erkennen hat, ist, dass Alan Strang, der im Theater Scala von Angelo Konzett (Großartig!) gespielt wird, wie nahezu jeder Mensch, der eine Religion hat, die auf anderen konservativen Glaubensvorstellungen fußt, ein Sklave seiner Gottheit ist. Aufgewachsen mit einer monotheistischen Glaubensrichtung, glaubt auch Alan, dass Equus ein allumfassender Gott ist, der alles sieht, weshalb die Pferde des Reitstalls, in dem er arbeitet, ihr tragisches Schicksal erleiden.
Tom Wagenhammer (Pferd Nugget), Eduard Martens und Bernardo Ribeiro wurden von Choreographie-Genie Jerôme Knols in dieser Inszenierung im Theater Scala in Pferde verwandelt, die in einigen Szenen, in denen sie in kaltes Licht gebadet und von ominöser Musik begleitet, die Bühne betreten, nachdrücklich beängstigend erscheinen, während sie in anderen Szenen wiederum einfach Pferde sind, die im Heu scharren und ihre Mähnen schütteln. Mit Nugget, dem ersten Pferd, das Alan bürsten darf, entwickelt er scheinbar eine ganz besondere Beziehung, die dazu führt, dass Angelo Konzett und Tom Wagenhammer einige sehr intime und physisch fordernde Szenen zusammen spielen, welche wahnsinnig gut gelungen sind und nur so vor sexueller Energie sprühen.
Leider konnte ein nicht unbeträchtlicher Teil des Publikums an jenem Abend, den ich diese Woche im Theater Scala verbracht habe, entweder nicht mit Männern, die Pferde darstellen, Homoerotik oder der Auslebung religiöser Fantasien bzw. einer Kombination aus all diesen Faktoren umgehen, weshalb einige der prägnantesten Szenen von „Equus“ von prustendem Gelächter überschattet wurden. Das einzige „Skandal“ an diesem Abend schien die Dreistigkeit des Stückes zu sein, ernst genommen werden zu wollen. Die Anwesenheit und Befindlichkeit Dutzender weiterer Zuschauender schien für einige Besucherinnen und Besucher nicht von Bedeutung zu sein – was für sie im Vordergrund stand, war das eigene Amüsement und das lautstarke Ausleben dieses Gefühls mit Freundinnen und Freunden. Dieser Theaterabend hat sich somit für mich nicht so sehr als das, was ich immer gerne theatre experience nenne (= u.a. all die Gefühle, die ich von einem Theaterabend mitnehme), entpuppt, sondern als ein anthropologisches Experiment, das leider der Wirkungskraft des Stückes geschadet hat, da mein Fokus oftmals zwangsläufig nicht dort lag, wo ich ihn selbst gerne gehabt hätte. Ein Experiment, auf das ich in Angesicht der großartigen Leistung aller Darstellenden, gerne verzichtet hätte.
Ich wünsche dem Theater Scala bei allen restlichen Vorstellungen von „Equus“ ein Publikum mit angemessener Zurückhaltung und hoffe, ich kann bis 22. November vielleicht auch noch selbst einen Abend dort erleben, der die exzellente Inszenierung dieses großartigen Stückes würdigt!