Das war die Kritik, die nach der Premiere von Der Glöckner von Notre Dame im Ronacher am 8.10.2022 am häufigsten in Berichten zu lesen war. Ist sie berechtigt?
Für Fans des Disney-Films und Kenner:innen des Musicals natürlich nicht. Aber viele der mitreißenden Lieder, die gut aus dem Disney-Film bzw. der Original-Version des Musicals aus Berlin (1999) bekannt sind, werden in der aktuellen Fassung relativ langatmig dargeboten. Der Tag des Narrenfests zum Beispiel ist eine lange Szene, die aus drei verschiedenen Liedern (Drunter Drüber, Spaß und Freude, Rhythmus meines Tambourins) besteht. Diese Stücke und deren Reprisen fließen ineinander und geben dem Publikum kaum eine Chance, kurz innezuhalten und die erzählte Geschichte in einer kurzen Atempause zu verarbeiten und gegebenenfalls mit Applaus zu würdigen. Generell sind die wenigsten Lieder kompakt genug aufbereitet, um ins Ohr zu gehen. Das liegt daran, dass fast jedes Stück von Erklärungen der Erzähler:innen unterbrochen wird. Der Klang von Notre Dame, das erste Stück des Musicals, beinhaltet eine jahrzehnte-spannende Vorgeschichte, die das Lied sicherlich über 10 Minuten ‚hinzieht‘ und dem Publikum den ersten Auftritt von Quasimodo und der beeindruckenden, riesigen Glocken, die den Beginn der eigentlichen Geschichte des Glöckners einläuten, lange vorenthält. Zudem sind einige der stimmungsvollsten Lieder aus der Original-Version des Musicals, die zumindest auf dem Album von 1999 in sich abgeschlossen sind, in die aktuelle Fassung einfach nicht übernommen worden (z. B. Tanz auf dem Seil, Weil du liebst, Trommeln in der Nacht). Bedauernswert ist auch, dass die rührende Ensemble-Version von Einmal aus den 90ern in der aktuellen Fassung zu einem Duett verkommen ist, bei dem die Nachdrücklichkeit des Originallieds kaum mehr zu spüren ist.
Trotz dieser Probleme schien das Publikum am 9.10.
gefesselt zu sein und es war bis auf gelegentliches Sesselrücken im
ersten Rang vom Ronacher während nahezu der gesamten Vorstellung mucksmäuschenstill.
(Un-) Nötige Updates
Frollo (sehr beeindruckend
gespielt und gesungen von Andreas Lichtenberger) erhält in der aktuellen
Fassung eine Backstory, die zu erklären versucht, warum er
Zigeuner:innen so fanatisch hasst. Leider stellt diese Geschichte gleich
zu Beginn die Geduld der Zuhörer:innen auf die Probe, da sie im allerersten Stück des Musicals untergebracht ist und dieses, wie
bereits oben erwähnt, sehr erklärungs-lastig und langatmig macht. Auch
trägt sie in keiner Weise dazu bei, die Handlungen von Frollo zu verändern bzw. die Figuren in seinem Umfeld ihre Ansichten über ihn überdenken zu lassen. Prinzipiell ist es löblich, zu versuchen, einer eintönigen Figur zusätzliche Schichten zu verleihen, aber dann muss mit diesen vielen
Schichten im Lauf des Stücks auch gespielt werden. Ein
Frollo ohne Backstory hätte es auch in dieser Fassung getan, da diese
Figur das Publikum auch einfach nur durch ihre pure Boshaftigkeit zu fesseln vermag.
Gelungenes und Seltsames
Generell beeindruckend ist das Ensemble, das gemeinsam mit den Hauptdarsteller:innen als der auktoriale Erzähler von Der Glöckner von Notre Dame fungiert. Auch wenn die Darsteller:innen deshalb, wie bereits erwähnt, leider den Flow vieler Lieder unterbrechen, funktioniert die gemeinsame Erzählung der Geschichte aufgrund der Professionalität aller Beteiligten sehr gut. Ebenfalls beeindruckend ist der Chor, der in den meisten Szenen als Mönche-Schar verkleidet im Dachstuhl von Notre Dame auf der Bühne sitzt und dessen fulminanter Einsatz bei vielen Liedern nicht wegzudenken wäre. Dieser Dachstuhl, der das unverrückbare Bühnenbild darstellt, ist übrigens die gesamte Zeit zu sehen – es gibt weder vor noch nach der Vorstellung und auch in der Pause keinen Bühnenvorhang, was wohl das Gefühl vermitteln sollte, dass man sich während des ganzen Theaterbesuchs in der Kathedrale befindet. (Dies funktioniert aber nur, wenn man auf einem Platz sitzt, der stets einen uneingeschränkten Blick auf die Bühne gewährt.) Ein effektives Detail aller Szenen, die in diesem Glockenturm spielen, ist das nur von Liedern unterbrochene Geräusch des Winds, der durch das Gebälk pfeift.
Sehr gelungen sind die aus dem Disney-Film bzw. der Original-Version des Musicals übernommenen Lieder Draußen, Hilf den Verstoß'nen, Das Licht des Himmels und Aus Stein, auch wenn einige der Liedtexte inzwischen upgedatet worden sind. Im Besonderen erwähnt werden muss natürlich Das Feuer der Hölle, das wie erwartet der Höhepunkt des Musicals ist und sich den längsten Applaus während der Vorstellung verdient. Ebenfalls gelungen ist Flucht nach Ägypten, die meines Wissens in der Original-Version des Musicals noch nicht enthalten war, hier in Wien aber sehr gut funktioniert. Vor allem visuell beeindruckend ist das Finale Ultimo, auch wenn es leider, wie viele Nummern in dieser Fassung, keinen besonders guten Flow entwickeln kann.
David Jakobs und Abla Alaoui, die hier im Ronacher die Hauptrollen, Quasimodo und Esmeralda, spielen, seien noch erwähnt: beide überzeugen. Ein nettes Detail bei der Interaktion von vielen Figuren mit Quasimodo ist die gelegentliche Verwendung von Gebärdensprache, da Quasimodo in dieser Fassung (wie im Buch) durch seine Tätigkeit im Glockenturm bereits einen ziemlichen Hörschaden hat.
Irgendwie erleichternd ist es, dass die Darsteller:innen nach dem tragischen Ende der Geschichte des Glöckners die Bühne verlassen dürfen, ohne die größten Hits aus dem Musical zum rhythmischen Klatschen und oftmals auch Sing-Along des Publikums noch einmal darbieten zu müssen (so wie es z. B. bei Elisabeth in Wien in den letzten Jahren immer üblich war). Zum Glück wurde bei Der Glöckner von Notre Dame anscheinend erkannt, dass das in diesem Fall wohl unangemessen gewesen wäre und dass diese Art, den Musical-Abend abzuschließen, generell anstrengend sein kann.
Dass es am Tag nach der Premiere noch kein finales Programmheft gab, kommt mir seltsam vor. Ein Programmheft kann ja schließlich zum Gesamteindruck des Musicals beitragen und vielleicht sogar erklären, warum gewisse künstlerische Entscheidungen, die dieses Musical zu dem gemacht haben, was es ist, getroffen wurden. Schade für alle Personen, die bereits vergangenes Wochenende im Ronacher waren und sich das Stück nicht noch einmal anschauen werden.
Hinweis für junge Theaterbesucher:innen
Um ein Stück für Kinder handelt es ich bei dieser Fassung von Der Glöckner von Notre Dame nicht. Als der Scheiterhaufen von Esmeralda im dramatischen Finale am 9.10. angezündet worden ist, hat ein Kind ein paar Logen zu meiner Linken zu weinen begonnen. Wie schon in der Original-Version des Musicals stirbt Esmeralda auch in dieser Fassung, wenn auch auf nicht ganz so grausame Art und Weise wie von Hugo beschrieben. Aber das traurige Ende von Quasimodo hält sich präzise an die Buchvorlage.
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Schlussapplaus 9.10.2022 |