13.3.24

Titanic – Stadttheater Baden, 10.3.2024

„Ein Stück Magie geht aus von diesem Schiff“

Im Musical Titanic geht es nicht wie in James Camerons Blockbuster um die mit Kate und Leo hauptbesetzte tragische Liebesgeschichte, sondern um die Schicksale all der anderen Kates, die an Board der Titanic waren. (Ein Running Gag im Musical dreht sich darum, dass fast jede zweite Frau in Irland Kate heißen muss, weil sich in der dritten Klasse außergewöhnlich viele Passagierinnen dieses Namens aufhalten.) In diesem Stück ist der eigentliche Star das große Ensemble, in dem kaum ein Mitglied nur eine Rolle spielt, sondern häufig abwechselnd als Passagier:in und Besatzungsmitglied auftritt. Hier stehen bis zum Zusammenstoß mit dem Eisberg am Ende des 1. Akts das tägliche Leben auf dem Schiff, die Hoffnungen und Träume der Reisenden, und die Spannungen zwischen den „Herren über die See“ (Kapitän, Erbauer und Besitzer der Titanic) im Mittelpunkt.

Im 1. Akt des Musicals dürfen sich mehrere Vertreter:innen der verschiedenen Beförderungsklassen und der Besatzung der Titanic auf der Bühne vorstellen und von ihren Träumen über Amerika oder über ihre Rückkehr nach Europa erzählen. So wird dem Publikum ein Potpourri an ungewöhnlich vielen Charakteren (für ein Musical) präsentiert, von denen manche mehr, manche weniger einnehmend sind. Stellvertretend für die vielen Lieder, in denen sich neue Figuren vorstellen, muss von der Produktion in Baden die wunderbare Nummer Der Heiratsantrag / Die Nacht hallte wider erwähnt werden, in dem sich der Heizer Frederick Barrett (Robert David Marx) und der Funker Harold Bride (Sebastian Brummer) gegenseitig ihr Herz ausschütten. Sebastian Brummer, der mit seinem warmen Heldentenor das Stadttheater Baden wohl auch ohne Mikrofon problemlos bis in den letzten Winkel ausfüllen könnte, war hier eine fantastische Neuentdeckung für mich. Gemeinsam mit dem wie immer sympathischen und stimmlich prägnanten Robert David Marx singt er hier im 1. Akt eines der schönsten hoffnungsvollen Duette des Musicals.

Auf der Brücke des Schiffes wird hingegen eine etwas ernstere Situation dargestellt: Hier bedrängt der Besitzer der Titanic (famos unsympathisch: Reinwald Kranner) täglich den Kapitän (Artur Ortens), noch schneller zu fahren, und holt sich dabei vom Erbauer des Schiffes (Martin Berger), der zögerlich meint, dass es technisch schon möglich wäre, noch ein paar Knoten zuzulegen, Unterstützung. Bei den Szenen auf der Brücke handelt es sich fast ausschließlich um Sprechszenen, die in gelungenem Kontrast zur Feierlaune, die viele Lieder der Passagier:innen im 1. Akt versprühen, stehen. Erst im 2. Akt, als das Unglück schon geschehen ist, werfen sich die drei Männer in Gesangsform gegenseitig vor, hauptverantwortlich für die Tragödie zu sein. Schlussendlich wird im Musical aber klargemacht, dass jeder von ihnen Fehler gemacht hat, die gemeinsam zum Untergang des Schiffes geführt haben (in Baden etwas blass: Die Schuldfrage). 

Stadttheater Baden, 10.3.2024

„Was wird gescheh'n, wenn die Schrauben sich immer rasender dreh'n?“

Aufgrund der zahlreichen Protagonist:innen und der vielen angeschnittenen Geschichten in Titanic sind die Melodien, die ins Ohr gehen, oft unterbrochen von Dialogen sowie anderen Melodien, die nicht denselben Figuren angehören, welche die jeweilige Gesangsnummer begonnen haben. Die meisten Ensemble-Lieder gipfeln in einem bombastischen Refrain, in dem alle Melodien der an der jeweiligen Nummer beteiligten Figuren vereint werden. Großartigerweise haben einige dieser Refrains in Baden sogar einen Showstopper-Effekt (z. B. Gute Fahrt) und stehen damit in starkem Gegensatz zu einigen Liebesduetten, die sich aufgrund der Dialoge, die auch in diese Lieder eingebaut sind, recht stockend anfühlen. Gegen Ende des 1. Akts erhielt zum Beispiel Ich will mehr, das Duett von Alice Beane (wunderbar stimmgewandt: Verena Barth-Jurca) und Edgar Beane (Beppo Binder) bei meinem Theaterbesuch gar keinen Applaus, obwohl beim Übergang zur nächsten Szene durchaus Zeit dafür gewesen wäre. Aber dieses Lied hat sich live eher wie ein Dialog, bei dem zwischendurch wahllos einige Sätze gesungen wurden, angefühlt.

Trotz der vielen Geschichten-Schnipsel und gelegentlich schwach konstruierten Lieder funktioniert der 1. Akt der Produktion der Bühne Baden insgesamt sehr gut. Die Spannung bleibt erhalten, auch wenn in einer Szene drei aufeinanderfolgende Dinner-Abende in der ersten Klasse gezeigt werden, die sich nur dadurch unterscheiden, dass dem Kapitän jeden Abend eine Eiswarnung von einem anderen Schiff an den Esstisch gebracht wird. Das ist einerseits zweifellos der wohlbekannten Geschichte zu verdanken, bei der man dem Auftauchen des Eisbergs entgegenfiebert, andererseits aber auch den energiegeladenen Darsteller:innen und dem ausgezeichneten Orchester der Bühne Baden. Zudem trägt das Setting im Stadttheater Baden, das mehr Intimität als größere Bühnen erlaubt, zur Nahbarkeit des Geschehens auf der Bühne bei. Eine starke Bindung des Publikums ist bei einem Musical, bei dem der 1. Akt (über eineinhalb Stunden lang) wesentlich länger ist als der 2. (eine Stunde lang) ohnehin notwendig. Seinen Höhepunkt erreicht der 1. Akt mit dem Gänsehaut-erzeugenden Kein Mond, das musikalisch fast drohend klingt. Es wird hier mit fabelhaftem Effekt nur angedeutet, dass jeden Moment ein Eisberg aus der tiefschwarzen Nacht auftauchen könnte.

„Von nun an wird das Schiff noch schneller sinken“

Auch im 2. Akt gibt es wieder vortreffliche Ensemble-Nummern (z. B. Im Schlafanzug im großen Saal), aber generell kann der zweite Teil des Musicals keinen so guten Flow entwickeln. Das ist vorrangig dem Umstand geschuldet, dass drei Lieder gegen Ende des Stückes, die leise und emotional beginnen, mit vollem Orchester-Einsatz sehr bombastisch enden, und dass somit wiederholt das Gefühl vermittelt wird, das Ende des Musicals sei erreicht. Nach all diesen Nummern (Wir sehen uns wiederWie vor aller Zeit und Mr Andrews Vision) gibt es aber immer wieder Sprechszenen, die isoliert betrachtet zwar gelungen sind, aber nicht gut an die überbordende Weltuntergangsstimmung, mit der die besagten Lieder enden, anknüpfen können. Zusätzlich war es am Ende des Stückes etwas enttäuschend, dass Martin Berger als Thomas Andrews mit Mr Andrews Vision, das die bedrückende letzte Nummer vor dem Untergang ist, stimmlich nicht wirklich beeindrucken konnte.

Zudem wird die Tragödie des Schiffsuntergangs auch manchmal dadurch zerstört, dass einige Liebespaare noch unbedingt ein Duett singen müssen und sich deshalb nicht (gleich) retten können. Selbstredend ist das Musical eine Kunstform, bei der Supension of disbelief notwendig ist, um sich davon unterhalten lassen zu können, aber dennoch hätte man die ein oder andere Szene in Titanic anders strukturieren können, um einige Charaktere nicht als gänzlich realitätsfremd zu präsentieren. Zum Beispiel hätte das Liebespaar aus der dritten Klasse sein verzweifeltes letztes Liebesduett singen können, bevor ihnen ein Besatzungsmitglied zeigt, wie sie auf schnellem Weg zu den Rettungsboten gelangen können. Unverständlicherweise entscheiden sich Kate McGowan (Missy May) und Jim Farrell (Stefan Bleiberschnig) aber erst nach dem Angebot, zum rettenden Deck nach oben geführt zu werden, dazu, im Schiffsbauch innezuhalten und in Erinnerungen an ihre letzten gemeinsamen Tage zu schwelgen. Da beginnt man selbst bei einem Musical an der Intelligenz dieser Charaktere zu zweifeln, was der zweiten Hälfte des Stückes ein wenig die Emotion raubt. (Es muss hier allerdings erwähnt werden, dass Drei Tage, das Lied aus ebenjener Szene, nichtsdestotrotz musikalisch eines der Highlights des 2. Akts ist.)

Zusammenfassend muss man sagen, dass Titanic vor allem im 2. Akt nicht wie erwartet berührt. Dazu gibt es in diesem Stück einfach zu viele Charaktere und dazugehörige Handlungsfäden, mit wenig bis gar keiner Entwicklung, was den Aufbau einer emotionalen Beziehung erschwert. Zusätzlich dazu ist Titanic aufgrund einiger Lieder, die in den vielen Dialogen (um es passend auszudrücken) untergehen, generell ein Musical, dessen Inszenierung ich mir herausfordernd vorstelle. Es ist umso bewundernswerter, dass die Bühne Baden es trotzdem zum größten Teil packend und mit Verve produziert hat. Der Theaterbesuch in Baden zahlt sich alleine wegen den großartigen Ensemble-Nummern aus, aber auch wegen der Erlösung davon, immer gleich den Ohrwurm einer bestimmten kanadischen Sängerin im Kopf zu haben, sobald „Titanic“ erwähnt wird. Durch dieses Musical einen neuen musikalischen Bezug zum wohl berühmtesten Schiffsunglück herstellen zu können, ist angenehm erfrischend!

Schlussapplaus, 10.3.2024

4.3.24

Rock Me Amadeus – Ronacher, Frühjahr 2024

Das neue VBW-Musical trumpft mit beeindruckendem Bühnendesign, fantastischen Darsteller:innen und mitreißenden Arrangements von Falcos Liedern auf und hat sich seine Standing Ovations bei all meinen Theaterbesuchen bis jetzt durchaus verdient.

Musical Arrangement, Ensemble und Hauptdarsteller

Die Lieder von Rock Me Amadeus sind aufwendig neu arrangiert und werden vom VBW Orchester unter der Bühne und von den Sänger:innen auf der Bühne mitreißend dargeboten. Nahezu alle Stücke sind vom Kreativteam des Musicals, dem Falcos originale Songschreiber angehören, mit dem richtigen Maß an Bombast ausgestattet worden, um seine Musik und sein Leben in eine Bühnenfassung fürs Musiktheater gießen zu können. Dass fast alle Lieder frenetischen Applaus erhalten und dass es nach der Vorstellung Standing Ovations gibt, ist aber nicht nur dem Kreativteam zu verdanken, sondern auch dem exzellenten  Gesangs- und Tanzensemble. Kaum eine Nummer wurde ohne das Ensemble inszeniert, das Falcos Lieder gesanglich mit vielen Stimmen hervorragend ausschmückt und tänzerisch in aufregenden Kostümen und mit energiegeladener Choreographie unterstreicht. Dank all dieser Talente kommt bei Rock Me Amadeus keine Langeweile auf, was nicht zuletzt auch den fabelhaften Hauptdarstellern zu verdanken ist, die auf dem eigens für dieses Musical gebauten Proszenium, das vier Sitzreihen weit in den Zuschauerraum hineinragt, Falcos Leben erzählen.

Moritz Mausser (Hauptbesetzung Hans) und Clemens Otto Bauer (Cover Hans), die ich bisher als Hauptdarsteller gesehen habe, vollbringen beide eine Meisterleistung in der Rolle von Hans Hölzel, in der wohl nicht viele Freiheiten bei der Darstellung erlaubt waren, da viele Österreicher:innen mit dieser Persönlichkeit bis zu einem gewissen Grad vertraut sind. Beide Darsteller schaffen es, Hans Hölzels Dialekt und seine unverkennbare Art zu sprechen und zu singen auf der Bühne als natürlich darzustellen; außer in den Momenten, wo es eben gekünstelt klingen soll. Sie brillieren nicht nur bei Falcos großen Hits sondern auch bei den eher unbekannten und teilweise für das Musical neu geschriebenen Songs. Besonders hervorzuheben ist hier Das Weiße Blatt Papier, bei dem die beiden Sänger im 1. Akt zeigen können, welchen Stimmumfang und welches Stimmvolumen sie haben. Moritz Mausser klingt bei manchen Liedern teilweise noch kraftvoller als Clemens Otto Bauer, was aber wohl dem Umstand geschuldet ist, dass er Falco schon wesentlich öfter gespielt hat. Beide Darsteller sind eine Offenbarung in dieser herausfordernden Rolle.

Schlussapplaus 2.3.2024: Franz Frickel, Katharina Gorgi, Clemens Otto Bauer, Michael Römer, Alex Melcher, Andreas Lichtenberger, Ensemble

Bühnenbild, Kulissen und Sichteinschränkung

Der gesamte Bühnenraum des Ronachers wird bei Rock Me Amadeus sehr beeindruckend genutzt. Eine große Rolle spielen dabei die Spiegel, mit denen die Wände links und rechts von der Bühne sowie die Decke darüber fast gänzlich verkleidet sind, und die den gesamten Raum noch tiefer erscheinen lassen, als er es ohnehin schon ist. Spiegel- und Glasflächen sind auch ein großer Bestandteil der beweglichen Kulissen, die von den Darsteller:innen oder der Bühnentechnik auf die Bühne geschoben oder von der Decke heruntergelassen werden. Dadurch ist alles einsehbar und jede Szene wird vervielfacht und dem Publikum aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Das gelungene Lichtdesign hebt die Hauptfiguren in jeder Szene deutlich aus der Spiegellandschaft hervor und präsentiert diese Menschen aus Fleisch und Blut in starkem Kontrast zur künstlichen und zerbrechlichen Welt, die sie umgibt. Zudem geben viele schnelle Szenenwechsel, eine oft eingesetzte Drehbühne und zahlreiche kreative Videoprojektionen auf der Rückwand der Bühne das Gefühl, dass diese Welt niemals stillzustehen vermag. Trotzdem erscheint das Gesamtgeschehen nicht überbordend, weil Bühnen-, Licht- und Videodesign genau aufeinander abgestimmt sind und gut ineinandergreifen. 

Das beeindruckendste Stück des Bühnendesigns ist ein Querschnitt von Falcos Kopf. Diese riesige Kulisse beherbergt nicht nur Falcos Alter Ego, sondern spielt auch in mehreren Szenen eine wichtige Rolle – manchmal mehr, manchmal weniger metaphorisch. Alleine um dieses eindrucksvolle, interaktive Stück Kulisse im Einsatz zu sehen, hat es sich für mich gelohnt, das Musical anzusehen.

Leider muss man bei Rock Me Amadeus aufgrund des imposanten Bühnendesigns zusätzliche Sichteinschränkungen im 2. Rang des Ronachers in Kauf nehmen. Die bereits von Haus aus eingeschränkte Sicht auf den äußeren Plätzen in der 1. Reihe ist durch einen der Spiegel, der am 2. Rang ganz vorne befestigt ist, noch weiter eingeschränkt worden. Auf diesen Plätzen kann man nur noch etwa 40% des Geschehens direkt auf der Bühne mitverfolgen; von den Projektionen auf der Rückwand der Bühne ganz zu schweigen. Durch die Spiegel an den Bühnenwänden und an der Decke darüber kann man sich zwar den Rest des visuellen Geschehens zusammenreimen, aber das Theatererlebnis auf diesen Plätzen (und möglicherweise auch auf anderen sichteingeschränkten Plätzen im Ronacher) ist großteils nur noch ein Hörerlebnis. Es empfiehlt sich, das Stück zumindest ein Mal von einem in der Mitte befindlichen Platz ohne Sichteinschränkung aus anzusehen.

Sicht von 2. Rang, Reihe 1, Platz 8

Falcos Alter Ego, Musical-Aufnahme und Live-Erlebnis

Wie in anderen VBW-Eigenproduktionen gibt es auch bei Rock Me Amadeus ein Alter Ego der Hauptfigur – eine dunkel anmutende Seite, die einen inspirierenden aber gleichzeitig zerstörerischen Einfluss auf ihre menschliche Hälfte hat. In Rock Me Amadeus ist diese Figur auf der Besetzungsliste buchstäblich als „Alter Ego“ angeführt und wird von Alex Melcher in der Hauptbesetzung gespielt. Auch wenn diese Figur bereits zu Beginn des Stückes auf der Bühne zu sehen ist, so hat sie ihren großen Auftritt erst im 2. Akt, in dem sie einige der besten Nummern singen darf, meistens im Duett mit Falco. Hierzu zählen das dramatische I Am You (bei dem es sogar mitten im Lied Applaus gibt), das herrlich wollüstige Dance Mephisto und das emotionale Finale mit Out of The Dark. Alex Melcher singt diese Lieder in seiner gewohnt rockigen Manier, und bildet mit seinem rauen Gesang einen hervorragenden Kontrast zu Moritz Maussers und Clemens Otto Bauers klaren Stimmen. 

Leider wird die Live-Gesamtaufnahme des Musicals, die im Dezember 2023 erschienen ist, vor allem Alex Melcher nicht gerecht. Bei einigen der aufgenommenen Liedern hat man das Gefühl, dass sein Mikrofon die Nuancen seine Stimme nicht richtig aufgenommen hat, was leider dazu führt, dass er auf der Aufnahme manchmal schwer zu verstehen ist – was im Theater nicht der Fall ist. Zudem erscheinen einige von Falcos Popsongs auf der Musical-Aufnahme generell in die Länge gezogen, wenn man das Stück nicht gesehen hat und das Geschehen auf der Bühne nicht darin einordnen kann. Dieses Gefühl kommt im Theater zum Glück nicht auf, weshalb es empfehlenswert ist, sich Rock Me Amadeus vor dem Anhören der Musical-Aufnahme live anzusehen.
Erfreulicherweise ist das durchaus sehenswerte Musical nun verlängert worden und wird auch in der nächsten Saison noch im Ronacher gespielt!