1.11.24

Moulin Rouge – Musical Dome, Köln, Oktober 2024

Der erste Eindruck vom Musical Dome in Köln

Zum Musicalerlebnis in Köln gehört nicht nur die Aufführung von Moulin Rouge! Das Musical, sondern auch der beeindruckend große und zum Verweilen einladende Eingangsbereich des Musical Domes, der mit einer großen Auswahl an Bars, Fotopoints und Souvenir-Ständen aufwartet. Hier dominiert passend zum Thema des Musicals bereits die Farbe Rot und die drei Ebenen des Foyers sind zudem mit einer exzentrischen Auswahl an unterschiedlichen Lichtquellen ausgestattet – von Pariser Straßenlaternen über Kronleuchter bis hin zu Disco-Kugeln. Dieses Design setzt sich im Auditorium fort, das vor und nach der Vorstellung sowie in der Pause relativ spärlich beleuchtet ist, damit das Auge gleich auf die imposante Ausstattung und Beleuchtung rund um die Bühne gelenkt wird. Es gibt hier nicht nur eine Windmühle mit beweglichen Armen und einen blauen Elefanten (kein Witz!) zu sehen, sondern auch mindestens zehn verschiedene Arten von Kronleuchtern, dutzende Lichterketten und viele unterschiedliche Rottöne zu entdecken, die gemeinsam ein schummriges Club-Milieu kreieren. Einen kleinen Eindruck von dem atemberaubenden Anblick, der sich somit bereits vor der Show im Auditorium des Musical Domes bietet, können die folgenden Bilder vermitteln: 




Vor allem in Kombination mit der Musik ist die Beleuchtung bei Moulin Rouge etwas ganz Besonderes. Die Tausende von Leuchtkörpern, die hier im Einsatz sein müssen, unterstützen die Show in vielen Szenen im Takt der Musik und verwandeln zum Beispiel beim Elephant Love Medley am Ende vom ersten Akt das gesamte Auditorium zur Melodie von I will always love you in einen spektakulären Sternenhimmel mit einem funkelnden Eiffelturm in der Mitte.

Zum besonderen Musicalerlebnis trägt hier zudem die Preshow bei, die fünfzehn Minuten vor jeder Vorstellung beginnt. Ab diesem Zeitpunkt kann man eine Handvoll Darsteller:innen auf und um die Bühne herum beobachten, die teilweise Besucher:innen des Moulin Rouge (in Anzügen) und teilweise Mitarbeiter:innen dieses Clubs (mit etwas mehr nackter Haut) darstellen. Der Höhepunkt davon ist eine Demonstration von zwei Schwertschluckerinnen, die das Ende der Preshow einläutet. Ähnlich wie bei Bat out of Hell wird der eigentliche Beginn des Musicals dann vom Hauptdarsteller, der sich zuvor bereits als Besucher des Moulin Rouge auf der Bühne befindet, eingeleitet. Passend zur Club-Atmosphäre, die man hier vermitteln möchte, läuft im Auditorium sowie im Eingangsbereich des Musical Domes vor der Vorstellung sowie in der Pause dezent psychedelische Instrumentalmusik.

Generell hat das Auditorium im Musical Dome eine für diese Produktion passend intime, angenehme Größe, die es ermöglicht, auch von der letzten Reihe im Balkon noch jedes Gesicht auf der Bühne zu erkennen, und sich gut mit einbezogen zu fühlen, wenn Harold Zidler das Publikum zu Beginn des Stückes in La Cage aux Folles-Manier direkt anspricht. Ebenfalls erwähnt werden soll, dass die Sitzplätze im Musical Dome sehr gemütlich sind, eine wunderbare Beinfreiheit gewähren, und es sich daher durchaus lohnt, früher als üblich ins Theater zu kommen, um sich von der Magie des Moulin Rouge bereits vor dem Beginn des Musicals in den Bann ziehen zu lassen.

Die deutsche Übersetzung

Für Moulin Rouge in Köln wurden die 75 Popsongs, von denen der Großteil ausschnitthaft im Musical vorkommt, teilweise übersetzt: Bei den meisten Songs sind die Strophen komplett ins Deutsche übersetzt worden und nur der Refrain wird im englischen Original gesungen, während bei einigen Ausnahmen auch die Refrains übersetzt worden sind. Einzig die Lieder, von denen nur sehr kurze Ausschnitte im Musical vorkommen, sind gar nicht übersetzt. 
Das Endergebnis ist, wenn man die Broadway-Version von Moulin Rouge im Ohr hat, manchmal sehr gewöhnungsbedürftig. An einige Mischungen aus englischen und deutschen Liedtexten kann man sich nur schwer gewöhnen, weil Texte, die sich im englischen Original reimen, in Köln aufgrund der bruchstückhaften Übersetzung nicht mehr wirklich fließen. Zum Beispiel ist aus „This woman is my destiny. – Shut up and dance with me!“ in Köln das etwas holprige „Das Schicksal hat uns im Visier. – Shut up and dance with me!“ geworden (aus Shut up and raise your glass). Das bedeutet nicht, dass die englischen Text-Ausschnitte in Köln gar nicht funktionieren – beim Elephant Love Medley etwa kann man es nur begrüßen, dass universal bekannte Textzeilen wie „All you need is love“ oder „I will always love you“ nicht übersetzt worden sind – aber oftmals erscheinen die englischen und deutschen Textmischungen einfach als unfertig. 
Die vollständig ins Deutsche übersetzten Lieder hingegen haben stilistisch durchaus gelungene und spannende Texte und unterstützen die jeweiligen Szenen inhaltlich mehr, weil sie besser als eine halbfertige Übersetzung fließen. Eine meiner Lieblings-Übersetzungen ist „Kaltes Feuer lodert in mir auf“ für „There's a fire starting in my heart“ aus der deutschen Version von Crazy Rolling

Lokalkolorit darf bei der deutschen Version von Moulin Rouge natürlich nicht fehlen. Hierfür wird die Szene genutzt, in der Christian in Paris ankommt und sein Songwriter-Talent unter Beweis stellen soll. Dabei zieht er unter anderem Ausschnitte aus Über den Wolken, Ich seh in dein Herz und Verdammt ich lieb dich aus dem Hut, die erwartungsgemäß für herzhaftes Gelächter sorgen. 

Mehr Melodrama als in der Filmvorlage?

Am ersten Abend bei Moulin Rouge in Köln habe ich mich bei der finalen Szene gefragt, ob es tatsächlich möglich ist, dass das Musical noch melodramatischer ist als der gleichnamige Film – der Film von Baz Luhrmann, Meister der Opulenz, bei dem die Protagonistin am Ende tragisch in den Armen ihres Geliebten stirbt, während im Hintergrund der von ihrem grausamen Mäzen geplante Mordanschlag auf jenen Geliebten nur knapp durch einige alberne Zufälle vereitelt wird. Schwer vorstellbar, dass es noch melodramatischer gehen kann. 
Jedoch: während es besagten Mordanschlag im Musical gar nicht gibt, versucht sich der Protagonist hier am Ende vor aller Augen selbst umzubringen, nachdem ihn seine Geliebte scheinbar verstoßen hat. Erst nachdem sie ihn mit ihrem gemeinsamen Lied (Come What May) vom Rande der Verzweiflung zurückgeholt hat, stirbt sie schließlich in seinen Armen. Am tragischen Ende hat sich bei der Bühnenversion also nichts geändert, aber während sich die Szenen, die im Film dem Finale vorangestellt sind, selbst nicht so ganz ernst nehmen, ertrinkt man auf dem Weg ins Finale des Musicals fast im Drama.
Zudem gibt es beim Musical am Schluss keine Trennung zwischen Metatheater und Theater – im Gegensatz zum Film, in dem zumindest der Tod der Protagonistin erst nach dem Fall des Vorhangs eintritt, gibt es im Musical am Schluss keine klare Linie zwischen dem Geschehen des im Musical aufgeführten Stücks und den Ereignissen danach. Dadurch wird das Melodrama-Level noch einmal gewaltig angehoben. 

Allerdings wird die überbordende Dramatik des Musicals etwas durch die Rahmenerzählung (= die rückblickende Erzählung der Ereignisse durch den Protagonisten) gedämpft, die sich wesentlich von der Rahmenerzählung im Film unterscheidet. Im Film ist die Rahmenerzählung, die nur zu Beginn und ganz am Schluss vorkommt, die Erzählung aus dem Mund eines gebrochenen Mannes, der den Tod seiner Geliebten nicht überwinden kann – vor allem das Ende des Films wird somit komplett von dieser Tragödie überschattet. 
Das Musical hingegen ist sich seiner ganzen Melodramatik durchaus bewusst (es ist „self-aware“, wie man es auf Englisch perfekt ausdrücken könnte): Erstens, weil die Rahmenerzählung öfter vorkommt und somit auch zwischendurch erlaubt, emotional etwas Abstand vom Geschehen zu nehmen, und zweitens, weil sie einen völlig anderen Ton als die tragische Erzählung im Film hat. Der Protagonist im Musical erzählt seine Geschichte, die der Protagonistin und des Moulin Rouge indem er in einigen Szenen gänzlich aus seiner Rolle heraustritt, und von Emotionen losgelöst und zum Sinn der Unterhaltung die vierte Wand durchbricht. Zu Beginn des zweiten Akts etwa fordert er das Publikum auf, sich an die erste große Liebe zu erinnern, da somit der in diesem Akt folgende (ich zitiere) „Wahnsinn“ leichter zu verstehen sein wird. Ganz am Ende des Musicals steht darum auch weniger die herzzerreißende Liebestragödie als das Fortbestehen des Zaubers des Moulin Rouge im Vordergrund. 

Die Besetzung in Köln

Jonas Hein (Vorstellung am 25.10.) ist eine fantastische Erstbesetzung für Christian und ich kann mir nicht vorstellen, dass er Aaron Tveit in dieser Rolle stimmlich um vieles nachsteht. Aber auch Daniel Eckert (Matinee am 26.10.) überzeugt als Christian und hat seine Sternstunde im ersten Akt vor allem bei seiner hinreißenden Interpretation von Your Song und im zweiten Akt bei Chandelier-Roxanne-Crazy Rolling (= der Höhepunkt des Musical), bei dem er mit etwas, das man am besten als „growling voice“ bezeichnen kann, total unter die Haut geht. 

In der Rolle von Satine hat mir am besten Chayenne Lont in der Matinee am 26.10. gefallen, die sogar das technisch herausfordernde Fireworks mit sehr viel Gefühl einwandfrei dargebracht hat. Sie brillierte zudem stimmlich gemeinsam mit Daniel Eckert vor allem im Elephant Love Medley bei dem schwierigen Part, der mit „All of this music breaks my heart“ eingeleitet wird – von diesen beiden Sänger:innen durfte ich an diesem Tag die erste völlig astreine Live-Version dieses Parts hören. 
In Kombination mit Chayenne Lonts Satine hat es mir bei dieser Vorstellung zudem Oliver Huether als Harold Zidler angetan, da man ihm in Satines und Zidlers gemeinsamen Szenen in dieser Cast-Kombination vor allem die sehr menschliche Seite des Entrepreneurs gut abnehmen konnte. 

Ebenfalls herausgestochen sind Michael Anzalone als Toulouse-Lautrec und Matt Posada als Duke of Monroth, auch wenn ich bei beiden Sängern zu Beginn ihrer ersten Soloparts kurzzeitig das Gefühl hatte, dass diese Parts für sie zu tief sind bzw. dass ihre Mikrofone ihre Stimme nicht richtig aufgenommen haben – möglicherweise lag das aber an der teilweise seltsamen Tonaussteuerung im Balkon (mehr dazu im nächsten Abschnitt). Nach ihrem etwas wackligen Beginn haben sie mich dann aber beide stimmlich und schauspielerisch mitgerissen. Michael Anzalone hat zudem das Glück, dass er die berührende Nummer Nature Boy gemeinsam mit dem jeweiligen Christian singen darf, die bei jeder Vorstellung das erste Lied war, das mich zu Tränen gerührt hat. 

Vini Gomes als Santiago sei auch noch erwähnt, der hier wohl endlich die perfekte Bühne für seine rauchige Stimme gefunden hat und sein Talent vor allem bei Backstage Romance – nach Chandelier-Roxanne-Crazy Rolling erwartungsgemäß die beste Nummer des Musicals – zeigen kann.

Schlussapplaus am 26.10.24 (Matinee)

Daniel Eckert und Chayenne Lont, 26.10.24 (Matinee)

Der Sound im Musical Dome

Die Tonaussteuerung im Balkon im Musical Dome ist in manchen Szenen leider etwas merkwürdig. Die Instrumentalmusik wird beim Finale einiger Lieder, die besonders bombastisch enden, verstärkt über direkt über dem Mittelblock befindliche Boxen eingespielt. Das mag vielleicht im Mittelblock in diesen Momenten für ein eindrucksvolles, immersives Sounderlebnis sorgen, aber wenn man seitlich des Mittelblocks sitzt, dann fragt man sich beim ersten Besuch im Musical Dome gelegentlich, warum der Bläser- und Streicher-Sound plötzlich verstärkt von links bzw. rechts kommt. Von ausgeglichenem Surround Sound kann man im Balkon im Musical Dome also nicht wirklich reden. Zudem finden diese speziellen Sound-Einspielungen in einer Lautstärke statt, die gelegentlich über die Sitze zu spüren ist – die Mitnahme von Ohrstöpseln für akustisch sensitive Personen ist also durchaus empfehlenswert. 

Zum Thema Sound muss auch noch erwähnt werden, dass die Mikrofone der Hauptdarsteller:innen an beiden Abenden ein bis zwei Mal für einen kurzen Moment ausgefallen sind. Da das Auditorium des Musical Domes nicht sehr groß ist, und es sich am 25. und 26.10. bei diesen nur ein paar Sekunden dauernden Momenten um relativ ruhige Sprech-Szenen gehandelt hat, hat man das Gesprochene zum Glück trotzdem noch erahnen können. Es ist allerdings nichts sehr vertrauenswürdig, dass dieses technische Missgeschick bei beiden meiner Theaterbesuche im Musical Dome passiert ist.

Fazit & Sitzplatz-Tipp

Es spricht einiges für Moulin Rouge im Musical Dome in Köln, das es bei der Londoner Produktion oder am Broadway meiner allgemeinen Musical-Erfahrung nach so wahrscheinlich nicht gibt: Die intime und gemütliche Atmosphäre in Köln ist für mich definitiv dem Gefühl der Massenabfertigung in den Broadway-Theatern vorzuziehen; genauso wie dem Gefühl, sich in einem der alten, hohen Londoner Theater unendlich weit von der Bühne entfernt in einen viel zu kleinen, klapprigen Theatersessel zwängen zu müssen.
Neue bzw. renovierte Musical-Spielstätten in Deutschland schaffen es immer wieder, mich durch ihre weitläufigen Eingangsbereiche, ihre gemütlichen Sitze und die einwandfreie Sicht von nahezu allen Plätzen zu verblüffen und für sich einzunehmen. Diese Punkte sprechen also neben der eigentlichen Show, bei der natürlich alle Beteiligten 100% geben, für Köln; sofern man sich nicht von den deutsch-englischen Text-Mischungen und der Tonaussteuerung im Balkon ablenken lässt.

Ein Hinweis noch: Kein Geld der Welt könnte mich dazu bewegen, bei Moulin Rouge im Musical Dome an den sogenannten „Can Can! Tischen“ vor der ersten regulären Sitzreihe Platz zu nehmen. Dort ist man zwar wahrlich mitten im Geschehen und kann u. a. Fingerfood während der Vorstellung genießen, aber durch die extreme Nähe zur Bühne bekommt man einige visuelle Höhepunkte der Aufführung (vor allem bei Chandelier-Roxanne-Crazy Rolling!) nur mit, wenn man sich umdreht, weil sich die Action relativ oft auf dem Steg hinter den „Can Can! Tischen“ abspielt (s. Fotos oben). Für ein visuell gesamtheitliches Erlebnis ist ein Platz, der sich nicht ganz so nah an der Bühne befindet, wesentlich empfehlenswerter.  

12.6.24

Richard III – MusikTheater an der Wien, 8.6.2024

Derzeit läuft in der Kammeroper (MusikTheater an der Wien) Richard III, ein Musiktheaterprojekt, das die Titelfigur von Shakespeares gleichnamigem Drama mit Schauspiel, Gesang und Tanz aus verschiedenen, teils neuen Blickwinkeln beleuchtet. In diesem Stück wird Richard von einem Schauspieler, einem Sänger und einem Tänzer verkörpert, entweder in gemeinsamen Szenen, in denen sie unterschiedliche Facetten Richards darstellen, oder gelegentlich einzeln, um eine bestimmte Seite der Figur ins Rampenlicht zu rücken. Begleitet werden sie dabei von vier Schauspieler:innen/Sänger:innen, die die Darstellung von weiteren Figuren aus Shakespeares Drama übernehmen, und vom Barock-Ensemble Bach Consort Wien, das Musik von Henry Purcell beisteuert. Gemeinsam ergibt sich so ein innovatives Konzept, das faszinierende neue Einblicke in die Titelfigur von Shakespeares wohl berühmtestem Historiendrama gewährt. 

Thus play I in one person many people

Richard III beginnt in der Kammeroper mit der Geburt Richards bei der Christoph Filler (Sänger), Sören Kneidl (Schauspieler) und Fabian Tobias Huster (Tänzer) mit verworrenen Gliedern auf die Bühne ausgespuckt werden. In dieser ersten Szene so wie in einigen folgenden teilen sich die drei Darsteller den Text von Shakespeare, in dem Richard immer wieder seine Deformität beschreibt, in welcher er seine schwarze Seele gespiegelt sieht. Danach trennen sie sich für einige Zeit, um unterschiedliche Facetten von Richard darzustellen, finden im Lauf des Stücks aber immer von neuem zueinander. Von den Szenen, in denen sie gemeinsam eine Person spielen, ist besonders die Krönungsszene visuell eindrucksvoll, in der sie sich gegenseitig das Blut, das aus ihrer Krone tropft, ins Gesicht schmieren, um somit alle Aspekte von Richards Person für einen Moment zu vereinen. 

Weiters beeindruckend ist vor allem eine Szene im zweiten Teil des Stücks, in dem Richards Mutter ihren Sohn in musikalischer Form zurecht wegen seiner Untaten, aber, sehr grausam, auch aufgrund seiner bloßen Existenz anklagt. Der Tänzer (= die Emotion Richards in dieser Szene) hängt bei diesem Lied an seiner Mutter und versucht, ihre Gunst wiederzuerlangen. Der Schauspieler (= der Verstand Richards in dieser Szene) hingegen wandert im hinteren Teil der Bühne ruhelos in Krone und Krönungsmantel umher und sorgt sich um seine Machtposition. Der Sänger ist währenddessen derjenige, der versucht, zwischen dem Tänzer und dem Schauspieler eine Brücke zu schlagen, und begleitet die Mutter mit seiner Stimme selbstironisch bei ihrem Lied. Somit porträtiert er gekonnt die schier endlose Selbstinszenierung Richards, die diese Shakespeare-Figur so unverwechselbar macht. 

Am Ende dieser Produktion sterben die drei Darsteller wieder vereint, nachdem Richard von Richmond sehr theatralisch und auf metaphorische Art und Weise besiegt wird. Richmond, der zukünftige Henry Tudor, tritt hier buchstäblich im weißen Engelskostüm auf und strahlt so starke Rechtschaffenheit aus, dass Richard seinen Anblick nicht erträgt und sich von ihm abwenden muss. Diese Darstellung fängt brilliant ein, was für ein Deus ex machina diese Figur bei Shakespeare im letzten Akt von Richard III ist. Richmonds Schwert kommt nicht zum Einsatz, sondern eine einzelne herabfallende Feder aus seinen Flügeln genügt, um den Tänzer (= den Körper Richards in dieser Szene) schwer zu verwunden. Richard weigert sich zunächst noch die Folgen dieser Wunde zu akzeptieren, nach und nach holt der Tod aber alle seine Facetten ein, die schließlich so ineinander verworren sterben, wie sie in der Kammeroper auf die Welt gekommen sind. 

If music be the food of love, play on

Fast jede Szene von Richard III wird als Kombination aus Shakespeare-Texten (nach der Übersetzung von Schlegel) und Barock-Musik mit den englischen Originaltexten dargeboten. Diese Mischung bietet einen befreienden Blick auf Richard III, weil sie es ermöglicht, Dinge auszudrücken, die nicht explizit in Shakespeares Texten vorkommen. Es handelt sich bei den ausgewählten Musikstücken großteils um Werke, die Purcell und seine Zeitgenossen (u.a. Matthew Locke) dezidiert über Shakespeares Dramen geschrieben haben. Aber auch die übrigen Stücke sind mit Bedacht ausgewählt und unterstreichen gezielt die jeweiligen Handlungsfäden von Richard III.   

Dass die Kombination aus barocken Liedtexten und Shakespeare-Handlung in der Kammeroper sehr präzise konzipiert ist, zeigt sich bereits früh in diesem Musiktheaterstück. Etwa in Shakespeares erster Szene, in der Richard so tut, als wüsste er nicht, warum sein Bruder George unter Bewachung zum Tower geführt wird, obwohl dessen Verhaftung natürlich auf einen Plan Richards zurückzuführen ist. Bereits hier kann in der Kammeroper anhand des die Szene begleitenden Liedtextes einerseits Georges prophetischer Alptraum, den er später im Tower hat, und in weiterer Folge sogar seine grausame Ermordung erahnt werden: Mit dem gewählten Auszug aus Blow, Boreas, Blow (Purcell) in dem es darum geht, auf hoher See nicht zu ertrinken, wird Georges nasses Ende (bei dem er bei Shakespeare grausam in einem Fass Wein ertränkt wird) auf einer weiteren, zusätzlich zu der von Shakespeare vorgegebenen Ebene angedeutet. 

Aber nicht nur die Musikstücke erweitern den Blickwinkel auf Richard III, sondern auch ein paar Texte aus anderen Shakespeare-Stücken: Zu Beginn des zweiten Teils dieser Produktion fragt Richard III mit den Worten von Richard II, wie er uns jemals erklären kann, was es bedeutet, König zu sein. Die Auszüge aus diesem introspektiven Monolog seines Vorfahren erklären hier zum Teil, warum Richard III auch nach der Machtübernahme so sehr um seine Position fürchtet und nicht zur Ruhe kommen kann. Kurz vor seinem Ende greift Richard in dieser Produktion dann auch noch auf Hamlet zurück und beschwert sich bei einem Durchbruch der vierten Wand darüber, dass wir (das Publikum) ihn nur benutzen möchten, so wie Hamlet es bei Rosencrantz und Guildenstern vermutet. Diese perfide und gerade deshalb gut zu Richard III passende Anklage des Publikums schafft es zwar nicht, das Schweigen der Zuseher:innen, die stets in Richards Untaten eingeweiht sind, auf die Probe zu stellen (denn zu diesem Zeitpunkt sind wir in der Kammeroper bereits an einem Punkt im Stück angelangt, an dem es für alle Beteiligten längst zu spät ist). Nichtsdestotrotz hat dieser Moment einen faszinierenden und gleichzeitig herben Beigeschmack, der den gesamten Theaterabend widerspiegelt. 

Schlussapplaus, Kammeroper, 8.6.24

Was ever woman in this humour won? (Seriously.)

Den Frauenrollen kann ich auch in dieser Produktion von Richard III nicht viel abgewinnen, auch wenn die beiden Sänger:innen in der Kammeroper fantastisch sind. In dieser Produktion des MusikTheaters an der Wien war es etwas verwirrend, dass die vier wichtigen Frauenfiguren in Shakespeares Stück textlich etwas ineinander übergeflossen sind (vor allem im 2. Akt) und dass es dadurch einige musikalische Momente mit Nicht-Shakespeare-Texten gab, in denen ich mir nicht sicher war, ob nun (z. B.) Anne oder Elizabeth gerade singt. Dadurch sind einige weibliche Shakespeare-Figuren bei dieser Produktion fast noch mehr an den Rand gedrängt als im originalen Drama. 

Erhellend in Bezug auf die Frauenrollen war in dieser Produktion aber die erste Hälfte der Szene in der Richard um Anne, deren Mann und Schwiegervater er ermordet hat, wirbt. Dies ist eine der Szenen in Richard III, in denen Frauen Richard viel zu schnell nachgeben, und Shakespeare hat sich nicht bemüht, diese Willenlosigkeit zumindest im Nachgang in einem Monolog (o. Ä.) der jeweiligen Figur zu erklären. Eine Lücke, die das MusikTheater an der Wien als Chance genutzt hat: In der Szene mit Anne wurde nur durch Musik und Tanz für mich klargemacht, dass Anne Richard aufgrund der Position, in der sie sich gerade befindet, einfach nicht entkommen kann. Mit dieser Erklärung der Nachgiebigkeit Annes hat das MusikTheater an der Wien zumindest auch noch einen kleinen Beitrag für diejenigen geschafft, die sich für die Darstellung der Frauen in Richard III interessieren.

12.5.24

Die Eiskönigin – Theater an der Elbe, Hamburg, 2.5.2024

Stage Entertainment bietet im Theater an der Elbe mit Die Eiskönigin – Das Musical ein durch und durch magisches Theatererlebnis, das im Herzen des Publikums lebendig wird. 

Anna und Elsa – zwei glänzende Protagonistinnen

Anna ist im Musical eine Wucht. Die direkt aus dem Stück stammende Beschreibung „Wirbelwind mit zwei Zöpfen“ beschreibt vor allem die junge Anna perfekt, aber auch die erwachsene Anna (bezaubernd: Abla Alaoui) ist herrlich quirlig und energiegeladen. Das kommt ihr vor allem in den vielen beschwingten Tanzeinlagen des Musicals zugute (göttlich: Liebe sie öffnet Tür'n), aber auch in ihrem Umgang mit allen anderen Menschen, denen sie zu Beginn uneingeschränkte, entwaffnende Herzlichkeit und Offenheit entgegenbringt. Zudem hat sie einen wachen Geist und ist äußerst schlagfertig, wesentlich mehr noch als in der Filmvorlage, was den ganzen Theaterabend sehr unterhaltsam macht. All das macht Anna zu einer ausgesprochen sympathischen Protagonistin, und es macht von der ersten Minute des Musicals an Spaß, dieser Figur auf der Bühne zuzusehen; nicht zuletzt aufgrund des herausragenden Kindercasts in Hamburg!

Auch Elsas Figur (exzellent: Lucina Scarpolini) ist im Musical weiter ausgebaut worden, aber sie ist im Gegensatz zu Anna nicht durch verstärkte Expressivität, sondern durch vertiefte Introspektion gekennzeichnet. Diese wird vor allem über einige Lieder, die speziell für die Musical-Version von Die Eiskönigin geschrieben worden sind, ans Publikum transportiert. Von diesen Liedern sticht im 1. Akt Gefährlich wenn man träumt hervor, in dem Elsa ihre Gedankengänge während der Krönungszeremonie ausformuliert. Diese Szene ist vor allem visuell sehr eindrucksvoll aufgrund des dynamischen Zusammenspiels der Titelfigur und des Ensembles, das wunderbar vom gelungenen Lichtdesign unterstrichen wird. Dasselbe gilt für Monster im 2. Akt, in dem zusätzlich dazu noch beeindruckende Bühnentechnik zum Einsatz kommt. In diesem besonders dramatischen Lied gibt es inhaltlich erstaunlicherweise sogar einen kurzen „To be or not to be“-Moment („Wär es vorbei, wenn ich nicht wär?“), den Elsa aber überwindet und somit den ersten Schritt in Richtung Heilung nimmt.

Zusätzlich zu diesen beiden Liedern, die Elsas Innenleben erweitern, ist das auf die Beziehung der beiden Schwestern fokussierte Duett Du bist alles, das ihnen hier im Musical endlich die Chance gibt, ihre Gefühle füreinander ausführlich zu kommunizieren, ebenfalls eine gelungene Ergänzung und bildet neben den aus dem Disney-Film bereits bekannten Hits einen der emotionalen Höhepunkte des Musicals. Obwohl das Stück Die Eiskönigin heißt und Elsa diejenige mit den Zauberkräften ist, sind die beiden Schwestern auf der Bühne eindeutig gleichwertige Hauptfiguren. Elsa selbst sagt zu ihrer Schwester am Schluss: „die, die zaubern kann, bist du“, was wunderbar die Selbstlosigkeit, die Anna immer weiter vorantreibt und zu einer Lösung für alle ihr nahestehenden Menschen führt, beschreibt. Es ist eine wahre Freude, ein Musical zu sehen, das nicht nur eine, sondern gleich zwei starke Protagonistinnen, die gemeinsam ihr Trauma überwinden, feiert!

Theater an der Elbe, 2.5.2024

Das Musicalerlebnis im Theater an der Elbe

Das Musicalerlebnis im Theater an der Elbe ist etwas ganz Besonderes – ich habe selten ein Musical gesehen, bei dem emotionale und bombastische Momente so vom Publikum gefeiert werden wie bei Die Eiskönigin. Das liegt bei diesem Musical an zwei Dingen:
Erstens am Publikum, das wohl an den meisten Abenden aus vielen kleinen und großen Disney-Fans besteht, und bei der Vorstellung so richtig „mitlebt“. Ein Abend an dem es im Zuschauerraum mucksmäuschenstill ist, ist im Theater an der Elbe wohl die Ausnahme, aber so etwas wäre hier auch fehl am Platz – ein Publikum das mitlebt, passt bei Die Eiskönigin einfach viel besser zum Theatererlebnis und verstärkt es noch weiter.
Zweitens glänzt das Musical neben den Protagonistinnen und den musikalischen Hits auch mit exzellenten Special Effects. Der Moment, in dem Elsa am Ende vom 1. Akt mit einem Schlag mitten auf der Bühne ihr Outfit verändert, wird fast zum Showstopper, auch wenn er sich mitten in Lass jetzt los befindet. Herausragend ist auch der Moment, in dem Anna im 2. Akt zu Eis erstarrt – eine Verwandlung, die visuell schwierig vom Bildschirm auf die Live-Bühne zu transportieren ist, aber hier mit viel Kreativität umgesetzt worden ist und sich seinen stürmischen Applaus mitten in der finalen Szene wahrlich verdient.

Perfekt ist Die Eiskönigin in Hamburg zwar nicht, aber auch wenn ein paar Dinge hinter den Erwartungen zurückbleiben (Bob van de Weijdeven als Hans fand ich stimmlich eher schwach) und man die amerikanische Originalversion so gut im Ohr hat, dass einige deutsche Textzeilen (die rhythmisch gut passen, aber inhaltlich etwas Anderes als der Originaltext aussagen) etwas gewöhnungsbedürftig sind, so funktioniert das Musical insgesamt sehr gut. Selbst die Lieder, mit deren Inhalt ich nichts anfangen kann – das schrecklich heteronormative Ein paar kleine Macken und das auf den gleichnamigen, mittlerweile nicht mehr existierenden Trend anspielende Hygge – sind mit so viel Verve auf die Bühne übertragen, dass sie live einen gewissen Charme entwickeln.

Gesamtheitlich erklären lässt sich die Magie des Theatererlebnisses im Theater an der Elbe einerseits durch das dort derzeit laufende Musical, andererseits aber auch durch die spezielle Theaterlocation inmitten der Elbe. Mit einem eigenen „Musical Shuttle“ übers Wasser zum Theater gebracht zu werden, ist schon etwas ganz Besonderes, egal ob man dann ins Theater an der Elbe geht, oder ins Theater im Hafen, in dem seit 2001 Der König der Löwen läuft. Somit wird man ohne Aufpreis schon durch die außergewöhnliche Anreise für ein paar Stunden erfolgreich dem Alltag entrückt, was das Musicalerlebnis in Hamburg magisch abrundet.
Für Fans des Musicals heißt es hoffen, dass Die Eiskönigin in Stuttgart (ab November 2024) an diesen Zauber anknüpfen kann bzw. ihr ganz eigenes, besonderes Erlebnis rund um den Musicalbesuch kreieren kann.

Schlussapplaus 2.5.2024

13.3.24

Titanic – Stadttheater Baden, 10.3.2024

„Ein Stück Magie geht aus von diesem Schiff“

Im Musical Titanic geht es nicht wie in James Camerons Blockbuster um die mit Kate und Leo hauptbesetzte tragische Liebesgeschichte, sondern um die Schicksale all der anderen Kates, die an Board der Titanic waren. (Ein Running Gag im Musical dreht sich darum, dass fast jede zweite Frau in Irland Kate heißen muss, weil sich in der dritten Klasse außergewöhnlich viele Passagierinnen dieses Namens aufhalten.) In diesem Stück ist der eigentliche Star das große Ensemble, in dem kaum ein Mitglied nur eine Rolle spielt, sondern häufig abwechselnd als Passagier:in und Besatzungsmitglied auftritt. Hier stehen bis zum Zusammenstoß mit dem Eisberg am Ende des 1. Akts das tägliche Leben auf dem Schiff, die Hoffnungen und Träume der Reisenden, und die Spannungen zwischen den „Herren über die See“ (Kapitän, Erbauer und Besitzer der Titanic) im Mittelpunkt.

Im 1. Akt des Musicals dürfen sich mehrere Vertreter:innen der verschiedenen Beförderungsklassen und der Besatzung der Titanic auf der Bühne vorstellen und von ihren Träumen über Amerika oder über ihre Rückkehr nach Europa erzählen. So wird dem Publikum ein Potpourri an ungewöhnlich vielen Charakteren (für ein Musical) präsentiert, von denen manche mehr, manche weniger einnehmend sind. Stellvertretend für die vielen Lieder, in denen sich neue Figuren vorstellen, muss von der Produktion in Baden die wunderbare Nummer Der Heiratsantrag / Die Nacht hallte wider erwähnt werden, in dem sich der Heizer Frederick Barrett (Robert David Marx) und der Funker Harold Bride (Sebastian Brummer) gegenseitig ihr Herz ausschütten. Sebastian Brummer, der mit seinem warmen Heldentenor das Stadttheater Baden wohl auch ohne Mikrofon problemlos bis in den letzten Winkel ausfüllen könnte, war hier eine fantastische Neuentdeckung für mich. Gemeinsam mit dem wie immer sympathischen und stimmlich prägnanten Robert David Marx singt er hier im 1. Akt eines der schönsten hoffnungsvollen Duette des Musicals.

Auf der Brücke des Schiffes wird hingegen eine etwas ernstere Situation dargestellt: Hier bedrängt der Besitzer der Titanic (famos unsympathisch: Reinwald Kranner) täglich den Kapitän (Artur Ortens), noch schneller zu fahren, und holt sich dabei vom Erbauer des Schiffes (Martin Berger), der zögerlich meint, dass es technisch schon möglich wäre, noch ein paar Knoten zuzulegen, Unterstützung. Bei den Szenen auf der Brücke handelt es sich fast ausschließlich um Sprechszenen, die in gelungenem Kontrast zur Feierlaune, die viele Lieder der Passagier:innen im 1. Akt versprühen, stehen. Erst im 2. Akt, als das Unglück schon geschehen ist, werfen sich die drei Männer in Gesangsform gegenseitig vor, hauptverantwortlich für die Tragödie zu sein. Schlussendlich wird im Musical aber klargemacht, dass jeder von ihnen Fehler gemacht hat, die gemeinsam zum Untergang des Schiffes geführt haben (in Baden etwas blass: Die Schuldfrage). 

Stadttheater Baden, 10.3.2024

„Was wird gescheh'n, wenn die Schrauben sich immer rasender dreh'n?“

Aufgrund der zahlreichen Protagonist:innen und der vielen angeschnittenen Geschichten in Titanic sind die Melodien, die ins Ohr gehen, oft unterbrochen von Dialogen sowie anderen Melodien, die nicht denselben Figuren angehören, welche die jeweilige Gesangsnummer begonnen haben. Die meisten Ensemble-Lieder gipfeln in einem bombastischen Refrain, in dem alle Melodien der an der jeweiligen Nummer beteiligten Figuren vereint werden. Großartigerweise haben einige dieser Refrains in Baden sogar einen Showstopper-Effekt (z. B. Gute Fahrt) und stehen damit in starkem Gegensatz zu einigen Liebesduetten, die sich aufgrund der Dialoge, die auch in diese Lieder eingebaut sind, recht stockend anfühlen. Gegen Ende des 1. Akts erhielt zum Beispiel Ich will mehr, das Duett von Alice Beane (wunderbar stimmgewandt: Verena Barth-Jurca) und Edgar Beane (Beppo Binder) bei meinem Theaterbesuch gar keinen Applaus, obwohl beim Übergang zur nächsten Szene durchaus Zeit dafür gewesen wäre. Aber dieses Lied hat sich live eher wie ein Dialog, bei dem zwischendurch wahllos einige Sätze gesungen wurden, angefühlt.

Trotz der vielen Geschichten-Schnipsel und gelegentlich schwach konstruierten Lieder funktioniert der 1. Akt der Produktion der Bühne Baden insgesamt sehr gut. Die Spannung bleibt erhalten, auch wenn in einer Szene drei aufeinanderfolgende Dinner-Abende in der ersten Klasse gezeigt werden, die sich nur dadurch unterscheiden, dass dem Kapitän jeden Abend eine Eiswarnung von einem anderen Schiff an den Esstisch gebracht wird. Das ist einerseits zweifellos der wohlbekannten Geschichte zu verdanken, bei der man dem Auftauchen des Eisbergs entgegenfiebert, andererseits aber auch den energiegeladenen Darsteller:innen und dem ausgezeichneten Orchester der Bühne Baden. Zudem trägt das Setting im Stadttheater Baden, das mehr Intimität als größere Bühnen erlaubt, zur Nahbarkeit des Geschehens auf der Bühne bei. Eine starke Bindung des Publikums ist bei einem Musical, bei dem der 1. Akt (über eineinhalb Stunden lang) wesentlich länger ist als der 2. (eine Stunde lang) ohnehin notwendig. Seinen Höhepunkt erreicht der 1. Akt mit dem Gänsehaut-erzeugenden Kein Mond, das musikalisch fast drohend klingt. Es wird hier mit fabelhaftem Effekt nur angedeutet, dass jeden Moment ein Eisberg aus der tiefschwarzen Nacht auftauchen könnte.

„Von nun an wird das Schiff noch schneller sinken“

Auch im 2. Akt gibt es wieder vortreffliche Ensemble-Nummern (z. B. Im Schlafanzug im großen Saal), aber generell kann der zweite Teil des Musicals keinen so guten Flow entwickeln. Das ist vorrangig dem Umstand geschuldet, dass drei Lieder gegen Ende des Stückes, die leise und emotional beginnen, mit vollem Orchester-Einsatz sehr bombastisch enden, und dass somit wiederholt das Gefühl vermittelt wird, das Ende des Musicals sei erreicht. Nach all diesen Nummern (Wir sehen uns wiederWie vor aller Zeit und Mr Andrews Vision) gibt es aber immer wieder Sprechszenen, die isoliert betrachtet zwar gelungen sind, aber nicht gut an die überbordende Weltuntergangsstimmung, mit der die besagten Lieder enden, anknüpfen können. Zusätzlich war es am Ende des Stückes etwas enttäuschend, dass Martin Berger als Thomas Andrews mit Mr Andrews Vision, das die bedrückende letzte Nummer vor dem Untergang ist, stimmlich nicht wirklich beeindrucken konnte.

Zudem wird die Tragödie des Schiffsuntergangs auch manchmal dadurch zerstört, dass einige Liebespaare noch unbedingt ein Duett singen müssen und sich deshalb nicht (gleich) retten können. Selbstredend ist das Musical eine Kunstform, bei der Supension of disbelief notwendig ist, um sich davon unterhalten lassen zu können, aber dennoch hätte man die ein oder andere Szene in Titanic anders strukturieren können, um einige Charaktere nicht als gänzlich realitätsfremd zu präsentieren. Zum Beispiel hätte das Liebespaar aus der dritten Klasse sein verzweifeltes letztes Liebesduett singen können, bevor ihnen ein Besatzungsmitglied zeigt, wie sie auf schnellem Weg zu den Rettungsboten gelangen können. Unverständlicherweise entscheiden sich Kate McGowan (Missy May) und Jim Farrell (Stefan Bleiberschnig) aber erst nach dem Angebot, zum rettenden Deck nach oben geführt zu werden, dazu, im Schiffsbauch innezuhalten und in Erinnerungen an ihre letzten gemeinsamen Tage zu schwelgen. Da beginnt man selbst bei einem Musical an der Intelligenz dieser Charaktere zu zweifeln, was der zweiten Hälfte des Stückes ein wenig die Emotion raubt. (Es muss hier allerdings erwähnt werden, dass Drei Tage, das Lied aus ebenjener Szene, nichtsdestotrotz musikalisch eines der Highlights des 2. Akts ist.)

Zusammenfassend muss man sagen, dass Titanic vor allem im 2. Akt nicht wie erwartet berührt. Dazu gibt es in diesem Stück einfach zu viele Charaktere und dazugehörige Handlungsfäden, mit wenig bis gar keiner Entwicklung, was den Aufbau einer emotionalen Beziehung erschwert. Zusätzlich dazu ist Titanic aufgrund einiger Lieder, die in den vielen Dialogen (um es passend auszudrücken) untergehen, generell ein Musical, dessen Inszenierung ich mir herausfordernd vorstelle. Es ist umso bewundernswerter, dass die Bühne Baden es trotzdem zum größten Teil packend und mit Verve produziert hat. Der Theaterbesuch in Baden zahlt sich alleine wegen den großartigen Ensemble-Nummern aus, aber auch wegen der Erlösung davon, immer gleich den Ohrwurm einer bestimmten kanadischen Sängerin im Kopf zu haben, sobald „Titanic“ erwähnt wird. Durch dieses Musical einen neuen musikalischen Bezug zum wohl berühmtesten Schiffsunglück herstellen zu können, ist angenehm erfrischend!

Schlussapplaus, 10.3.2024

4.3.24

Rock Me Amadeus – Ronacher, Frühjahr 2024

Das neue VBW-Musical trumpft mit beeindruckendem Bühnendesign, fantastischen Darsteller:innen und mitreißenden Arrangements von Falcos Liedern auf und hat sich seine Standing Ovations bei all meinen Theaterbesuchen bis jetzt durchaus verdient.

Musical Arrangement, Ensemble und Hauptdarsteller

Die Lieder von Rock Me Amadeus sind aufwendig neu arrangiert und werden vom VBW Orchester unter der Bühne und von den Sänger:innen auf der Bühne mitreißend dargeboten. Nahezu alle Stücke sind vom Kreativteam des Musicals, dem Falcos originale Songschreiber angehören, mit dem richtigen Maß an Bombast ausgestattet worden, um seine Musik und sein Leben in eine Bühnenfassung fürs Musiktheater gießen zu können. Dass fast alle Lieder frenetischen Applaus erhalten und dass es nach der Vorstellung Standing Ovations gibt, ist aber nicht nur dem Kreativteam zu verdanken, sondern auch dem exzellenten  Gesangs- und Tanzensemble. Kaum eine Nummer wurde ohne das Ensemble inszeniert, das Falcos Lieder gesanglich mit vielen Stimmen hervorragend ausschmückt und tänzerisch in aufregenden Kostümen und mit energiegeladener Choreographie unterstreicht. Dank all dieser Talente kommt bei Rock Me Amadeus keine Langeweile auf, was nicht zuletzt auch den fabelhaften Hauptdarstellern zu verdanken ist, die auf dem eigens für dieses Musical gebauten Proszenium, das vier Sitzreihen weit in den Zuschauerraum hineinragt, Falcos Leben erzählen.

Moritz Mausser (Hauptbesetzung Hans) und Clemens Otto Bauer (Cover Hans), die ich bisher als Hauptdarsteller gesehen habe, vollbringen beide eine Meisterleistung in der Rolle von Hans Hölzel, in der wohl nicht viele Freiheiten bei der Darstellung erlaubt waren, da viele Österreicher:innen mit dieser Persönlichkeit bis zu einem gewissen Grad vertraut sind. Beide Darsteller schaffen es, Hans Hölzels Dialekt und seine unverkennbare Art zu sprechen und zu singen auf der Bühne als natürlich darzustellen; außer in den Momenten, wo es eben gekünstelt klingen soll. Sie brillieren nicht nur bei Falcos großen Hits sondern auch bei den eher unbekannten und teilweise für das Musical neu geschriebenen Songs. Besonders hervorzuheben ist hier Das Weiße Blatt Papier, bei dem die beiden Sänger im 1. Akt zeigen können, welchen Stimmumfang und welches Stimmvolumen sie haben. Moritz Mausser klingt bei manchen Liedern teilweise noch kraftvoller als Clemens Otto Bauer, was aber wohl dem Umstand geschuldet ist, dass er Falco schon wesentlich öfter gespielt hat. Beide Darsteller sind eine Offenbarung in dieser herausfordernden Rolle.

Schlussapplaus 2.3.2024: Franz Frickel, Katharina Gorgi, Clemens Otto Bauer, Michael Römer, Alex Melcher, Andreas Lichtenberger, Ensemble

Bühnenbild, Kulissen und Sichteinschränkung

Der gesamte Bühnenraum des Ronachers wird bei Rock Me Amadeus sehr beeindruckend genutzt. Eine große Rolle spielen dabei die Spiegel, mit denen die Wände links und rechts von der Bühne sowie die Decke darüber fast gänzlich verkleidet sind, und die den gesamten Raum noch tiefer erscheinen lassen, als er es ohnehin schon ist. Spiegel- und Glasflächen sind auch ein großer Bestandteil der beweglichen Kulissen, die von den Darsteller:innen oder der Bühnentechnik auf die Bühne geschoben oder von der Decke heruntergelassen werden. Dadurch ist alles einsehbar und jede Szene wird vervielfacht und dem Publikum aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Das gelungene Lichtdesign hebt die Hauptfiguren in jeder Szene deutlich aus der Spiegellandschaft hervor und präsentiert diese Menschen aus Fleisch und Blut in starkem Kontrast zur künstlichen und zerbrechlichen Welt, die sie umgibt. Zudem geben viele schnelle Szenenwechsel, eine oft eingesetzte Drehbühne und zahlreiche kreative Videoprojektionen auf der Rückwand der Bühne das Gefühl, dass diese Welt niemals stillzustehen vermag. Trotzdem erscheint das Gesamtgeschehen nicht überbordend, weil Bühnen-, Licht- und Videodesign genau aufeinander abgestimmt sind und gut ineinandergreifen. 

Das beeindruckendste Stück des Bühnendesigns ist ein Querschnitt von Falcos Kopf. Diese riesige Kulisse beherbergt nicht nur Falcos Alter Ego, sondern spielt auch in mehreren Szenen eine wichtige Rolle – manchmal mehr, manchmal weniger metaphorisch. Alleine um dieses eindrucksvolle, interaktive Stück Kulisse im Einsatz zu sehen, hat es sich für mich gelohnt, das Musical anzusehen.

Leider muss man bei Rock Me Amadeus aufgrund des imposanten Bühnendesigns zusätzliche Sichteinschränkungen im 2. Rang des Ronachers in Kauf nehmen. Die bereits von Haus aus eingeschränkte Sicht auf den äußeren Plätzen in der 1. Reihe ist durch einen der Spiegel, der am 2. Rang ganz vorne befestigt ist, noch weiter eingeschränkt worden. Auf diesen Plätzen kann man nur noch etwa 40% des Geschehens direkt auf der Bühne mitverfolgen; von den Projektionen auf der Rückwand der Bühne ganz zu schweigen. Durch die Spiegel an den Bühnenwänden und an der Decke darüber kann man sich zwar den Rest des visuellen Geschehens zusammenreimen, aber das Theatererlebnis auf diesen Plätzen (und möglicherweise auch auf anderen sichteingeschränkten Plätzen im Ronacher) ist großteils nur noch ein Hörerlebnis. Es empfiehlt sich, das Stück zumindest ein Mal von einem in der Mitte befindlichen Platz ohne Sichteinschränkung aus anzusehen.

Sicht von 2. Rang, Reihe 1, Platz 8

Falcos Alter Ego, Musical-Aufnahme und Live-Erlebnis

Wie in anderen VBW-Eigenproduktionen gibt es auch bei Rock Me Amadeus ein Alter Ego der Hauptfigur – eine dunkel anmutende Seite, die einen inspirierenden aber gleichzeitig zerstörerischen Einfluss auf ihre menschliche Hälfte hat. In Rock Me Amadeus ist diese Figur auf der Besetzungsliste buchstäblich als „Alter Ego“ angeführt und wird von Alex Melcher in der Hauptbesetzung gespielt. Auch wenn diese Figur bereits zu Beginn des Stückes auf der Bühne zu sehen ist, so hat sie ihren großen Auftritt erst im 2. Akt, in dem sie einige der besten Nummern singen darf, meistens im Duett mit Falco. Hierzu zählen das dramatische I Am You (bei dem es sogar mitten im Lied Applaus gibt), das herrlich wollüstige Dance Mephisto und das emotionale Finale mit Out of The Dark. Alex Melcher singt diese Lieder in seiner gewohnt rockigen Manier, und bildet mit seinem rauen Gesang einen hervorragenden Kontrast zu Moritz Maussers und Clemens Otto Bauers klaren Stimmen. 

Leider wird die Live-Gesamtaufnahme des Musicals, die im Dezember 2023 erschienen ist, vor allem Alex Melcher nicht gerecht. Bei einigen der aufgenommenen Liedern hat man das Gefühl, dass sein Mikrofon die Nuancen seine Stimme nicht richtig aufgenommen hat, was leider dazu führt, dass er auf der Aufnahme manchmal schwer zu verstehen ist – was im Theater nicht der Fall ist. Zudem erscheinen einige von Falcos Popsongs auf der Musical-Aufnahme generell in die Länge gezogen, wenn man das Stück nicht gesehen hat und das Geschehen auf der Bühne nicht darin einordnen kann. Dieses Gefühl kommt im Theater zum Glück nicht auf, weshalb es empfehlenswert ist, sich Rock Me Amadeus vor dem Anhören der Musical-Aufnahme live anzusehen.
Erfreulicherweise ist das durchaus sehenswerte Musical nun verlängert worden und wird auch in der nächsten Saison noch im Ronacher gespielt!

11.10.22

Der Glöckner von Notre Dame, Ronacher, 9.10.2022

„Keine Ohrwürmer“

Das war die Kritik, die nach der Premiere von Der Glöckner von Notre Dame im Ronacher am 8.10.2022 am häufigsten in Berichten zu lesen war. Ist sie berechtigt? 

Für Fans des Disney-Films und Kenner:innen des Musicals natürlich nicht. Aber viele der mitreißenden Lieder, die gut aus dem Disney-Film bzw. der Original-Version des Musicals aus Berlin (1999) bekannt sind, werden in der aktuellen Fassung relativ langatmig dargeboten. Der Tag des Narrenfests zum Beispiel ist eine lange Szene, die aus drei verschiedenen Liedern (Drunter Drüber, Spaß und Freude, Rhythmus meines Tambourins) besteht. Diese Stücke und deren Reprisen fließen ineinander und geben dem Publikum kaum eine Chance, kurz innezuhalten und die erzählte Geschichte in einer kurzen Atempause zu verarbeiten und gegebenenfalls mit Applaus zu würdigen. Generell sind die wenigsten Lieder kompakt genug aufbereitet, um ins Ohr zu gehen. Das liegt daran, dass fast jedes Stück von Erklärungen der Erzähler:innen unterbrochen wird. Der Klang von Notre Dame, das erste Stück des Musicals, beinhaltet eine jahrzehnte-spannende Vorgeschichte, die das Lied sicherlich über 10 Minuten ‚hinzieht‘ und dem Publikum den ersten Auftritt von Quasimodo und der beeindruckenden, riesigen Glocken, die den Beginn der eigentlichen Geschichte des Glöckners einläuten, lange vorenthält. Zudem sind einige der stimmungsvollsten Lieder aus der Original-Version des Musicals, die zumindest auf dem Album von 1999 in sich abgeschlossen sind, in die aktuelle Fassung einfach nicht übernommen worden (z. B. Tanz auf dem Seil, Weil du liebst, Trommeln in der Nacht). Bedauernswert ist auch, dass die rührende Ensemble-Version von Einmal aus den 90ern in der aktuellen Fassung zu einem Duett verkommen ist, bei dem die Nachdrücklichkeit des Originallieds kaum mehr zu spüren ist.

Trotz dieser Probleme schien das Publikum am 9.10. gefesselt zu sein und es war bis auf gelegentliches Sesselrücken im ersten Rang vom Ronacher während nahezu der gesamten Vorstellung mucksmäuschenstill.

(Un-) Nötige Updates

Frollo (sehr beeindruckend gespielt und gesungen von Andreas Lichtenberger) erhält in der aktuellen Fassung eine Backstory, die zu erklären versucht, warum er Zigeuner:innen so fanatisch hasst. Leider stellt diese Geschichte gleich zu Beginn die Geduld der Zuhörer:innen auf die Probe, da sie im allerersten Stück des Musicals untergebracht ist und dieses, wie bereits oben erwähnt, sehr erklärungs-lastig und langatmig macht. Auch trägt sie in keiner Weise dazu bei, die Handlungen von Frollo zu verändern bzw. die Figuren in seinem Umfeld ihre Ansichten über ihn überdenken zu lassen. Prinzipiell ist es löblich, zu versuchen, einer eintönigen Figur zusätzliche Schichten zu verleihen, aber dann muss mit diesen vielen Schichten im Lauf des Stücks auch gespielt werden. Ein Frollo ohne Backstory hätte es auch in dieser Fassung getan, da diese Figur das Publikum auch einfach nur durch ihre pure Boshaftigkeit zu fesseln vermag.

Die Figur des Phoebus (der Rolle entsprechend gespielt und gesungen von Dominik Hees) hingegen ist, wie in allen deutschsprachigen Versionen dieses Musicals und auch im Disney-Film, sehr blass. Fast wünscht man sich den Phoebus, den Victor Hugo geschrieben hat, auch wenn dieser komplett unmoralisch und abscheulich, aber zumindest interessant war. Der Charakter des Phoebus in der aktuellen Fassung wird in seiner ersten Szene erklärt und danach verändert er sich nicht mehr. Und davon, das Publikum (egal ob mit oder ohne Backstory) wie Frollo in den Bann zu ziehen, kann Phoebus leider nur träumen.

Gelungenes und Seltsames

Generell beeindruckend ist das Ensemble, das gemeinsam mit den Hauptdarsteller:innen als der auktoriale Erzähler von Der Glöckner von Notre Dame fungiert. Auch wenn die Darsteller:innen deshalb, wie bereits erwähnt, leider den Flow vieler Lieder unterbrechen, funktioniert die gemeinsame Erzählung der Geschichte aufgrund der Professionalität aller Beteiligten sehr gut. Ebenfalls beeindruckend ist der Chor, der in den meisten Szenen als Mönche-Schar verkleidet im Dachstuhl von Notre Dame auf der Bühne sitzt und dessen fulminanter Einsatz bei vielen Liedern nicht wegzudenken wäre. Dieser Dachstuhl, der das unverrückbare Bühnenbild darstellt, ist übrigens die gesamte Zeit zu sehen – es gibt weder vor noch nach der Vorstellung und auch in der Pause keinen Bühnenvorhang, was wohl das Gefühl vermitteln sollte, dass man sich während des ganzen Theaterbesuchs in der Kathedrale befindet. (Dies funktioniert aber nur, wenn man auf einem Platz sitzt, der stets einen uneingeschränkten Blick auf die Bühne gewährt.) Ein effektives Detail aller Szenen, die in diesem Glockenturm spielen, ist das nur von Liedern unterbrochene Geräusch des Winds, der durch das Gebälk pfeift.

Sehr gelungen sind die aus dem Disney-Film bzw. der Original-Version des Musicals übernommenen Lieder Draußen, Hilf den Verstoß'nen, Das Licht des Himmels und Aus Stein, auch wenn einige der Liedtexte inzwischen upgedatet worden sind. Im Besonderen erwähnt werden muss natürlich Das Feuer der Hölle, das wie erwartet der Höhepunkt des Musicals ist und sich den längsten Applaus während der Vorstellung verdient. Ebenfalls gelungen ist Flucht nach Ägypten, die meines Wissens in der Original-Version des Musicals noch nicht enthalten war, hier in Wien aber sehr gut funktioniert. Vor allem visuell beeindruckend ist das Finale Ultimo, auch wenn es leider, wie viele Nummern in dieser Fassung, keinen besonders guten Flow entwickeln kann.

David Jakobs und Abla Alaoui, die hier im Ronacher die Hauptrollen, Quasimodo und Esmeralda, spielen, seien noch erwähnt: beide überzeugen. Ein nettes Detail bei der Interaktion von vielen Figuren mit Quasimodo ist die gelegentliche Verwendung von Gebärdensprache, da Quasimodo in dieser Fassung (wie im Buch) durch seine Tätigkeit im Glockenturm bereits einen ziemlichen Hörschaden hat.

Irgendwie erleichternd ist es, dass die Darsteller:innen nach dem tragischen Ende der Geschichte des Glöckners die Bühne verlassen dürfen, ohne die größten Hits aus dem Musical zum rhythmischen Klatschen und oftmals auch Sing-Along des Publikums noch einmal darbieten zu müssen (so wie es z. B. bei Elisabeth in Wien in den letzten Jahren immer üblich war). Zum Glück wurde bei Der Glöckner von Notre Dame anscheinend erkannt, dass das in diesem Fall wohl unangemessen gewesen wäre und dass diese Art, den Musical-Abend abzuschließen, generell anstrengend sein kann.

Dass es am Tag nach der Premiere noch kein finales Programmheft gab, kommt mir seltsam vor. Ein Programmheft kann ja schließlich zum Gesamteindruck des Musicals beitragen und vielleicht sogar erklären, warum gewisse künstlerische Entscheidungen, die dieses Musical zu dem gemacht haben, was es ist, getroffen wurden. Schade für alle Personen, die bereits vergangenes Wochenende im Ronacher waren und sich das Stück nicht noch einmal anschauen werden.

Hinweis für junge Theaterbesucher:innen

Um ein Stück für Kinder handelt es ich bei dieser Fassung von Der Glöckner von Notre Dame nicht. Als der Scheiterhaufen von Esmeralda im dramatischen Finale am 9.10. angezündet worden ist, hat ein Kind ein paar Logen zu meiner Linken zu weinen begonnen. Wie schon in der Original-Version des Musicals stirbt Esmeralda auch in dieser Fassung, wenn auch auf nicht ganz so grausame Art und Weise wie von Hugo beschrieben. Aber das traurige Ende von Quasimodo hält sich präzise an die Buchvorlage.  

Schlussapplaus 9.10.2022 

 

13.4.20

My Jesus Christ Superstar Quarantine Weekend, Easter 2020

One thing I'll say for him: Jesus is cool.

This weekend gave me the opportunity to watch two live recordings of Tim Rice and Andrew Lloyd Webber's Jesus Christ Superstar back to back: a recording of the 2012 Jesus Christ Superstar: Live Arena Tour (directed by Laurence Connor) was made available on YouTube for 48 hours, and the 2018 NBC live recording Jesus Christ Superstar Live in Concert (directed by David Leveaux and Alex Rudzinski) was televised again. These two productions, differing completely in conception and execution, have given rise to many questions, first and foremost: What is most important about a Jesus Christ Superstar production for me?
Is it a new and exciting arrangement? A hitherto unseen choreography? A cast whose members are all vocally equipped to handle the demanding parts? Or is it little directorial details that work very well in closeups and intimate theatre spaces?

New arrangements are not a must-have
... but they are always thrilling to listen to. Both the Live Arena Tour and the Live in Concert production have rather traditional arrangements, except for an unfamiliar guitar solo in Damned for All Time in the Live Arena Tour version. However, the creative teams behind both productions understood perfectly how exciting it is to have the band onstage with the actors. At the edges of both stages scaffolds have been raised which allow the musicians to be very close to the action unfolding onstage, and yet, to perform their pieces undisturbed by it. Both productions occasionally include the guitarists in the action, and in the Live in Concert version three violinists and one cellist are now and again among Jesus' followers. The quality of both recordings is pretty impressive, although a few microphones in the Live in Concert version were turned on too early or too late, and there are a few strange moments in the Live Arena Tour production that I hope are glitches in the recording and not what I actually fear is auto-tune.

Settings and the message they might convey
The second thing one notices about Jesus Christ Superstar is the production's setting. The Live Arena Tour version uses massive projections during the overture to make it clear that it is set in our very troubling times, emphasising this point by showing shots of civil unrest and by having TV hosts report ill news about the state of our society. In this production, Jesus is likened to Che Guevara, leading a band of ragtag followers into the territory of a couple of “suits”, who monitor every socio-economic change. King Herod has got his own TV show in which he lets his audience vote for or against Jesus' credibility. Following his arrest, Jesus is constantly hounded by journalists, even after his flogging has left him bloody and unable to stand. 
In contrast, the Live in Concert production takes an entirely different approach and sets Jesus Christ Superstar nowhere in particular. Some of the characters (namely the Pharisees and Pontius Pilate) even wear quite eccentric costumes which add to the feeling of timelessness. The creative team behind this production was clearly more interested in entertaining the audience than in alluding to any parallel goings-on in the real world, which in my opinion is just as well. As important as I think theatre as a mouthpiece can be, I doubt that anyone who saw the Live Arena Tour production with its painfully obvious message about the poor state of our world rethought their life afterwards. Furthermore, I have seen so many productions of Jesus Christ Superstar in the last few years that have tried to shove an allegorical message down my throat that I am now and again grateful for a production that is taken out of time and simply tries to entertain me.

Rethinking choreography and camera work
The choreography of the Live in Concert production of which we get a first taste during the overture is unlike any Jesus Christ Superstar choreography I have seen so far. The lively movement gives the entire production a wonderfully natural flow that practically glued me to the screen. I guess if I had seen this production live that I would have been overwhelmed by all the action on the massive set during specific scenes, so I am all the more grateful for the mostly very neat, though sometimes a bit trippy camera work. 
What the Live in Concert production does another great job of, is to clearly separate the amusing scenes from the harrowing ones. For instance, during King Herod's Song the director of this production successfully centres everyone's attention on the music and King Herod (the fabulous Alice Cooper). I always feel very bad for the actor who plays Jesus during this scene, because I cannot imagine how he keeps from rolling his eyes at the shenanigans he witnesses at the King's court. In the Live in Concert production, Jesus can pull as many faces as he wants, because the camera, and thus, our attention is never focused on his face. This smart decision makes this scene thoroughly enjoyable because for once, I do not feel the need to emphasise with a distressed Jesus.
A further example is Superstar from the same production, which feels like a huge party, celebrating this energetic music and the amazing vocals by Brandon Victor Dixon as Judas Iscariot. Jesus can only be seen for a very brief moment during this celebratory scene, and again, we do not see his battered face. The audience's attention remains focused on the singers and dancers, and this liberating moment can be fully enjoyed before the bitter end.

About the casting
There are singers in both productions who make you feel sure that they are vocally equipped for their role a soon as they open their mouth and sing their first note, like Brandon Victor Dixon (Judas Iscariot) in the Live in Concert production, and Alexander Hanson (Pontius Pilate) and Giovanni Spano (Simon Zealotes) in the Live Arena Tour version. Then there are singers who either first have to prove themselves to your acquired taste or who have such vocally challenging parts that it is initially hard to believe that they can pull it off, like Ben Forster (Jesus), Tim Minchin (Judas), Pete Gallagher (Kaiphas) and Gerard Bentall (Annas) from the Live Arena Tour production. Then there are those whose acting is quite engaging, but whose vocal range is disappointing, like Ben Daniels (Pontius Pilate), those who you thought could sing anything until you see them in a role that is beyond their vocal capabilities, like Norm Lewis (Caiaphas), and lastly, the ones whose voice simply does not work for you in their respective role, like John Legend (Jesus).
Sadly, the cast of the extraordinarily staged Live in Concert production, which the last three examples are from, cannot be compared to the cast of the very sombre Live Arena Tour production, in which every lead performer is vocally equipped for the role they have been cast in. I prefer Jesus Christ Superstar as a rock opera with vocals that pierce my ear drums and make my heart bleed, which Ben Forster as Jesus in the Live Arena Tour production manages superbly, while John Legend in the same role in the Live in Concert version sounds “nice”, which is per se not bad, but also not what I am looking for in Jesus Christ Superstar.

In the end, both productions have their merits: one triumphs because of its excellent casting choices while the other one keeps me hooked thanks to its creative setting and unusual choreography. One breaks my heart and the other one entertains me. I therefore conclude, that what is most important for me about a Jesus Christ Superstar production is a healthy mix of new and daring arrangements, setting, choreography, directorial choices and a cast that is vocally suited for the demanding parts this rock opera has in store. I am very grateful that I got the chance to watch these two outstanding productions that satisfied me in completely different ways this weekend!


As a side note: It is interesting that in both productions mentioned above Caiphas' line “One thing I'll say for him: Jesus is cool” in This Jesus Must Die was replaced with “Infantile sermons, the multitude drools”. A pity, because those odd, out of place lines always made me smile.