Was für ein Morgen, Paris wird geweckt von einer Menge Gesellschaftskritik.
[Achtung: Spoiler!]
Von der Geschichte des 1999 in Berlin uraufgeführten Musicals ist nicht viel übriggeblieben – vom Disneyfilm aus 1996 ganz zu schweigen. Das neue Buch von Peter Parnell bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen dem Originalmusical und der Buchvorlage von Victor Hugo und wandelt zwischendurch auch ab und zu auf den Pfaden der künstlerischen Freiheit.
Man könnte fast sagen, dass "Der Glöckner von Notre Dame - Das Musical" endlich erwachsen geworden ist. Die starken Schwankungen des Tons, die der Disneyfilm aufgewiesen hat (komödiantische Szenen von Wasserspeiern, die beim Kartenspiel gegen Vögel verlieren, knapp gefolgt von Szenen, in denen Zigeuner verbrannt werden sollen...) sind gänzlich verschwunden. Die Geschichte des neuen Musicals ist düster und grausam – z.B. erfolgt die Auspeitschung Quasimodos genau wie in der Buchvorlage beschrieben.
Die für das komödiantische Element im Disneyfilm zuständigen drei Wasserspeier (die eindeutig nur dazu da waren um an den Erfolg der drei Hyänen aus "Der König der Löwen" anzuknüpfen) sind ersetzt worden durch eine ganze Schar von steinernen Statuen und Wasserspeiern, die alle mit Quasimodo Konversation führen – ein weiterer Pluspunkt für Victor Hugo-Fans, der beschreibt, wie Quasimodo tagtäglich mit den Dutzenden von Statuen, die über ganz Notre Dame verteilt sind, spricht.
Dieses Ensemble von "Steinfiguren" in ihren grauen Kutten ist im neuen Musical gleichzeitig das Zigeunervolk, in das es sich in Sekundenschnelle verwandeln kann. Dargestellt wird Quasimodos Verlassen seines Zufluchtsortes äußerst überzeugend erstens durch das Abwerfen der grauen Kutten des Ensembles, zweitens durch das Verschwinden des blauen Himmels und das Geräusch des durch das Gebälk pfeifenden Windes, und drittens durch das Verschwinden der sich in manchen Szenen auf dem Boden der Bühne befindlichen Balustrade, die den Glockenturm umgibt. Eine der sich im Glockenturm befindlichen Treppen ist beweglich, was in vielen Szenen im Deutschen Theater für zusätzliche Akzente sorgt.
Von den Wasserspeiern/Statuen/Zigeunern/Mönchen, kurz: dem Ensemble, wird mit Clopin als Wortführer (wie schon 1999 voller Energie und Witz: Jens Janke) die Geschichte erzählt. Jede Hauptfigur, die eingeführt wird, spricht bzw. singt auch über sich selbst hin und wieder in der dritten Person um die Zuschauerinnen und Zuschauer an der Innenwelt des jeweiligen Charakters teilhaben zu lassen. Diese Erzählweise ist der einzige Punkt, der mich an dieser Musicalproduktion leicht irritiert hat, weil sie einem unnötigerweise ins Gesicht schreit: seht her, wir erzählen hier eine Geschichte!
Der ca. 20-köpfige Chor, der das Ensemble unterstützt, sitzt bzw. steht, in graue Mönchskutten gekleidet, zu beiden Seiten der Balustraden und sorgt für die musikalisch bombastischsten Momente dieses Theaterbesuchs. Schon die prägnante Melodie der Glocken Notre Dames von Alan Menken, mit der der Munich Show Chorus und das Orchester des Stage Theater des Westens das Stück eröffnen, ist mir durch Mark und Bein gegangen.
Die Hauptdarsteller:
Milan van Waardenburg (Zweitbesetzung) darf als Quasimodo sogar ohne Buckel und "hässlichem Gesicht" (das mit ein paar Streifen schwarzer Farbe verziert ist) auf der Bühne stehen: vor dem ersten Auftritts Quasimodo im Erwachsenenalter – bei dem man dann die Verwandlung in den Glöckner live miterleben darf – und am Ende des Stücks, bei dem Quasimodo als einziger Mensch ohne Missgestalt auf der Bühne steht, während das Volk von Paris um ihn rundherum deformierte Gliedmaßen ausbildet und hässliche Gesichter zieht. Diese Entscheidung Quasimodo am Ende als "einzigen Engel unter lauter Dämonen" darzustellen bricht meiner Meinung nach selbst mit der Fiktion, weil sie die Welt zeigt, wie Esmeralda sie sich in "Einmal" erträumt, und an eine Existenz dieser Welt kann ich nur schwerlich glauben.
Dieser kurze Abstecher in eine höhere Metaebene beschert uns allerdings den eindeutig berührendsten Moment des Musicals: Esmeraldas Geist geht dem Licht entgegen während der unversehrte Quasimodo die vierte Wand durchbricht und vom Ende von Victor Hugos Buch erzählt: zwei Jahre nach den Ereignissen in Notre Dame findet man zwei eng umschlungene Skelette in einem Grab – das einer Frau und das eines Mannes mit gekrümmter Wirbelsäule.
Als man sie voneinander trennen wollte, zerfielen sie zu Staub.
Als man sie voneinander trennen wollte, zerfielen sie zu Staub.
Sina Pirouzi (Zweitbesetzung) ist sehr klein und zierlich, was perfekt zu meiner Vorstellung der Esmeralda passt. Gekonnt wickelt sie in den Straßen von Paris das Volk mit Tanz und Gesang um den Finger, und bringt wenig später Quasimodo im Glockenturm von Notre Dame unglaubliche Herzensgüte entgegen. "Fern von der Welt" ist eine der wenigen Szenen dieses Musicals, die in dieser grausamen Welt glückliche Stimmung ohne Sorgen um die Zukunft aufkommen lässt.
All dem gegenüber steht Felix Martin als Claude Frollo.
Die menschliche Leidenschaft, die Victor Hugo in "Der Glöckner von Notre Dame" am eindrücklichsten und ausführlichsten beschrieben hat, ist das Verlangen nach Esmeralda, das die Menschlichkeit des Erzdiakons nach und nach verzehrt. Es war also ein naheliegender Schritt auch im Musical das Hauptaugenmerk auf den Ausdruck dieser Emotion zu legen: "Das Feuer der Hölle" ist meiner Meinung nach das intensivste Lied des Musicals, mit einem von rotem Licht umhüllten Chor, der sich mit mea maxima culpa die Seele aus dem Leib singt und Frollos Gewissensbisse aufwiegelt, bis dieser nur noch zwei Wege sieht: gehör mir oder brenn!
Sosehr ich Norbert Lamlas außergewöhnliche Stimme auf der Aufnahme der Höhepunkte des Originalmusicals auch schätze, muss ich doch zugeben, dass ich erstmals durch Felix Martin den gesamten Text von "Das Feuer der Hölle" verstanden habe. Felix Martin hat eine Sprech- sowie Gesangsstimme, die perfekt zu der Rolle des Frollo passt und jedem seiner Worte ungeheures Gewicht und Autorität verleiht und zeitweise richtig furcht- und abscheueinflößend sein kann.
Die Figur des Frollo bietet neben der von Quasimodo in diesem Stück auch das meiste Potenzial zu emotionaler Tiefe und einer Möglichkeit dem Publikum eine Moral dieser Geschichte zu übermitteln – welche am Ende allerdings nicht ergriffen wird: Fragt uns nicht ob es eine Moral gibt. Vielleicht kommt es darauf auch nicht an.
Welche brandaktuelle Seite von Frollos Charakter allerdings in unserer Zeit genutzt werden kann und hier auch gut genutzt wird, das ist Frollos Abscheu gegen Zigeuner bzw. Ausländer – unfreiwillige Gesellschaftskritik: da wir es heute noch immer nicht besser wissen als im Mittelalter sind viele Aspekte vom "Glöckner von Notre Dame" brandaktuell.
Einen kleinen Wermutstropfen hat das Wissen um das Originalmusical diesem Theaterbesuch für mich beigemengt: die Lieder "Tanz auf dem Seil" und "Weil du liebst" kommen in der neuen Version des Musicals nicht mehr vor bzw. wurden durch andere Lieder ersetzt – nicht weniger schön, aber diese müssen sich erst einen besonderen Platz in meinem Herzen ergattern.
Das Bühnenbild, die Darsteller, die Musik und vor allem die Glocken Notre Dames, die, wenn sie auf der Bühne geläutet wurden, jedes Mal ein visuelles sowie klangliches Highlight des Musicals für mich waren, haben mich allerdings erfolgreich vertröstet. Besonders erwähnenswert ist im Zusammenhang mit den beeindruckenden Glocken auch noch das kochende Blei, das Quasimodo beim Höhepunkt des Stückes über die Balustrade des Glockenturms auf das Volk hinabgießt. Ein rot/silber-glänzender Vorhang sowie authentische Geräuschkulisse haben mir das Gefühl gegeben, möglicherweise selbst jeden Moment verbrüht zu werden.
"Der Glöckner von Notre Dame" ist eine mit Feuersglut aus erkalteter Asche (wieder-) auferstandene, äußerst gelungene Produktion mit Kritik an unserer Gesellschaft und Kritik an der Grausamkeit des Lebens.