10.5.19

Next to Normal, Vienna's English Theatre

I am the one who held you, I am the one who cried

Zehn Jahre nach seiner Broadway-Premiere wird das Musical Next to Normal erstmals in der englischen Fassung im Vienna's English Theatre aufgeführt. Das Bühnenstück von Brian Yorkey (Lyrics/Book) und Tom Kitt (Music), das sich um Diana Goodman dreht, die versucht, trotz ihrer bipolaren Störung ein normales“ Familienleben für ihren Mann und ihre Tochter in Gang zu bringen, ist u.a. zwar schon 2016 mit der Originalbesetzung der deutschen Erstaufführung im Museumsquartier gezeigt worden, allerdings hat noch keine Aufführung des Musicals bis dato in Wien in einem so intimen Rahmen wie im Vienna's English Theatre stattgefunden. Wer das „Original“ nicht kennt, der wird bei dieser ausgezeichneten Produktion, die bedauernswerterweise nur für eine Woche läuft, nichts vermissen.

Diana Goodman probiert im Lauf des Stücks mehrere großteils fehlschlagende Behandlungsmethoden für psychische Erkrankungen aus, während vor allem ihre Tochter Natalie damit zu kämpfen hat, dass sich in ihrem Leben alles immer nur um Diana dreht, und ihr Mann Dan einfach nur noch versucht, die Familie am Zerbrechen zu hindern.
Durch eine Vielzahl an schnell wechselnden Pop-/Rock-Melodien werden die Gefühlsschwankungen von allen Beteiligten zur Geltung gebracht. Hier lässt sich die Kritik anbringen, dass Next to Normal dutzende Melodien vorstellt, die – sofern sie möglichst früh im Musical vorkommen – zwar bis zum Ende fast alle eine Reprise bekommen, allerdings immer nur eine sehr kurze Laufzeit haben (Beispiel: Why stay? = 0:50 Minuten). Vor allem im 1. Akt reiht sich eine schwungvolle ein- bis dreiminütige Nummer an die nächste, wodurch viele kreative Melodien leider ein wenig in den Hintergrund gedrängt werden.

Während vor allem im 1. Akt von Next to Normal viele lustige Situationen und originelle Dialoge oft für gehobene Stimmung sorgen, ist doch im Verlauf des gesamten Musical die Verzweiflung aller Beteiligten, die immer knapp unter der Oberfläche brodelt, spürbar. Dieses Gefühl steht gemeinsam mit dem Verlangen der Protagonistinnen und Protagonisten nach einem „normalen Leben“, das allerdings niemand von ihnen genau definieren kann, dauerhaft im Vordergrund.
Aber trotzdem hat man als Zuschauerin und Zuschauer nie das Gefühl durch das Geschehen auf der Bühne deprimiert zu werden. In Next to Normal ist durchgehend der Balanceakt zwischen zu Tränen rührenden, die Welt stillstehen lassenden Momenten und die Story vorantreibenden, mitreißenden Szenen gelungen.

Diana Goodman wird in Vienna's English Theatre von Suzanne Carey gespielt, die ein sechsköpfiges Team von Darstellerinnen und Darsteller anführt, von denen jede Einzelne und jeder Einzelner derart deutlich singt, dass man sich das Stück vorher nicht einmal angehört haben muss, um jedes Wort zu verstehen (was bei kleineren Musicalproduktionen leider nicht oft vorkommt – meist allerdings aufgrund der bescheidenen Technikausstattung). Während die Auswüchse von Dianas psychischer Erkrankung zu Beginn der gestrigen Vorstellung von Next to Normal oftmals für übertriebenes (und möglicherweise peinlich berührtes) Gelächter gesorgt haben, haben die meisten Besucherinnen und Besucher bald erkannt, dass wesentlich mehr als komödiantisches Talent hinter der Darstellung dieser Figur steckt: Suzanne Carey nuanciert Dianas Charakter in jeder Szene – sei sie tragisch oder lustig angelegt – bis ins kleinste Detail und unterstreicht diese Nuancierungen mit perfekter Wiedergabe aller im Songbook stehenden Noten.
Ihre berührendsten Momente hat sie gemeinsam mit Kevin Perry (Dan Goodman) und Helena Lenn (Natalie Goodman), die beide darstellerisch und gesanglich in diesem Stück meiner Meinung nach – genau wie Suzanne Carey – einfach überwältigend sind.
Alex Wadham darf zwischen den Figuren von Dianas behandelnden Ärzten bzw. Psychotherapeuten und „Dr. Rock“ wechseln, und tut dies mit solch glänzendem Einsatz von schauspielerischem und stimmlichem Talent, dass ich ihn am liebsten gleich noch einmal in diesen Rollen sehen würde.

Unterstützt werden die Darstellenden musikalisch von einer fünfköpfigen Band, die sich im Vienna's English Theatre leider das ganze Stück über ungesehen im rückwärtigen Teil des Theaters aufhalten muss, mit seiner musikalischen Leistung aber keineswegs verstecken muss.

Hervorragend sind bei dieser Produktion vorrangig alle Ensemblenummern, angefangen bei Just another Day über Catch me I'm falling bis zu Light. Die Kombination von Suzanne Careys, Kevin Perrys und Kilian Bergers (Gabe Goodman) Stimmen in You don't know/I am the One ist eines der absoluten Highlights der Show. Von den (Semi-)Solonummern des 1. Akts haben mich Suzanne Careys I Miss the Mountains und Kevin Perrys I've been am meisten berührt.
So richtig das Herz gebrochen hat mir Suzanne Carey dann im 2. Akt mit einem von der Band nur dezent akzentuierten So Anyway, bei dem es interessanterweise dem Publikum selbst überlassen wird, zu entscheiden, welchem Familienmitglied Diana am Ende dieser Geschichte ihre Liebe versichert und von wem sie sich verabschiedet.

Wenn Next to Normal länger in Vienna's English Theatre laufen würde, dann würde ich es mir auf alle Fälle noch einmal anschauen. Wer Glück hat, der kann heute vielleicht noch Tickets für die letzte Vorstellung ergattern.

4.5.19

Sunset Boulevard, Gerhart-Hauptmann-Theater, Görlitz

I have kissed thy mouth, Iokanaan, I have kissed thy mouth.


Die belebten Paramount Studios der 1950er verblassen im Hintergrund, als uns der Stummfilm-Star Norma Desmond in die Welt entführt, aus der sie der Tonfilm einst vertrieben hat. Überwältigt von den Reaktionen, für die ihr Auftauchen in den Filmstudios Jahre nach ihrem letzten Erfolg sorgt, schwelgt sie in Erinnerungen an alte Zeiten während sie auf wohlvertrauten Pfaden wandelt: vorbei an der Maske und all den aufregenden Kostümen, die nach ihr rufen. Das Verlangen des ehemaligen Filmstars endlich wieder vor der Kamera zu stehen wird mit jedem Schritt stärker. Wieder von einer Filmcrew umgeben und in Gesellschaft ehemaliger Kollegen sieht sie klar ihre Zukunft vor sich, an die sich nahtlos die schon viel zu lange ruhende Vergangenheit anknüpfen lässt.

Und wenn meine Hände beben
Dann nur deshalb, weil ich fühle
Dies hier ist mein Leben


Würde die Inszenierung von Sunset Boulevard, die dieses Frühjahr im Gerhart-Hauptmann-Theater in Görtlitz läuft, mit dem oben zitieren Lied, Als hätten wir uns nie Goodbye gesagt, enden (kurz nach Beginn des 1. Akts), dann würde ich danach zufrieden nach Hause gehen. Yvonne Reich vermittelt das Verlangen Norma Desmonds nach einer Fortsetzung ihrer Karriere und all den Zauber, den ebenjene mit sich bringen würde, in dieser Szene derart gekonnt, dass ich von diesem Musical in diesem Moment nicht mehr brauchen würde.

Begleitet von Andrew Lloyd Webbers eingängiger Musik, die von einem ca. 30-köpfigen Orchester exzellent gespielt wird, kann man derzeit in Görlitz in Ansgar Weigners Inszenierung von Sunset Boulevard tief in die Gefühlswelten der vielschichtigen Hauptcharaktere dieses Stücks, von denen jeder bis zum Ende undurchschaubar bleibt, eintauchen. Nicht nur die labile Norma Desmond spielt hier ein doppeltes Spiel, sondern auch der arrogante Schriftsteller Joe Gillis (Daniel Eckert), den man trotz seines Talents seine eigene Unbeliebtheit minütlich zu steigern, nicht einfach in die Misanthropen-Schublade stecken kann.

Am „aufregendsten“ sind bei dieser Produktion von Sunset Boulevard die stillen Momente, in denen sich jene Menschen, die im schlechtesten Fall zu keiner Beziehung (sei sie geschäftlich oder privat) fähig sind und im besten Fall wissen, dass sie ebenjene Beziehung im Moment einfach überhaupt nicht brauchen, unfreiwillig nahe kommen: Yvonne Reich und Daniel Eckert dabei beobachten zu können, wie ihre Figuren versuchen, sich selbst treu zu bleiben, und dabei doch ihre Schicksale auf der Suche nach besseren Leben immer weiter ineinander verstricken, ist wahrlich ein Privileg (Träume aus Licht und Ein gutes Jahr). 
Sowohl Norma Desmond als auch Joe Gillis (der zudem als auktorialer Erzähler fungiert), tragen Sunset Boulevard auf ihre ganz eigene Art und Weise: Yvonne Reichs berauschende Verkörperung der exzentrischen Filmdiva und Daniel Eckerts selbstverständliche Darstellung des überheblichen Drehbuchautors sind die unentbehrlichen Eckpfeiler dieser Produktion. Stimmlich lassen beide Darstellenden in diesen Rollen nichts zu wünschen übrig.

Stefan Bley verkörpert als Max von Mayerling die wohl unnahbarste Figur des Stücks und trägt mit einem das Theater bis in den letzten Winkel ausfüllenden Kein Star wird jemals größer sein einen sehr wichtigen Teil zur Mystifikation Norma Desmonds bei.
Auch Anna Gössi, die die (feministisch gesehen) gegen Ende des Stücks etwas undankbare, aber tragende Rolle der Betty Schaefer übernommen hat, spielt durchgehend überzeugend und singt in jeder Szene ausgesprochen präzise  – besonders gelungen ist hier Viel zu sehr, ihr Duett mit Daniel Eckert.


Besonderer Erwähnung neben der phänomenalen Besetzung bedarf noch der Einfallsreichtum des Inszenierungs-Teams, das es geschafft hat, auch herausfordernde Szenen – wie etwa die Auto-Verfolgungsjagd zu Beginn des Stücks – äußerst überzeugend und unterhaltsam zu inszenieren. Auch die Drehbühne mit ihren opulenten und vielseitig nutzbaren Treppenaufgängen wird beständig sehr eindrucksvoll eingesetzt.
Ansgar Weigner hat eine wahnsinnig atmosphärische Inszenierung von Sunset Boulevard auf die Bühne gebracht, in der er erfolgreich einen Bogen zwischen der magischen Stimmung von Billy Wilders Film und dem Bühnenstück von Don Black und Christopher Hampton spannt. Hier können einige inszenatorische Details selbst das Sunset Boulevard-erprobte Publikum noch überraschen.
Karten dafür gibt es auf der Homepage des Gerhart-Hauptmann-Theaters.

Ein großes Lob geht noch an das Gerhard-Hauptmann-Theater, das für alle Sprechszenen polnische Untertitel und für Gesangsszenen sowohl deutsche als auch polnische Untertitel parat hat.

 (c) Gerhart-Hauptmann-Theater

Der deutsche Text dieser Inszenierung ist von Michael Kunze.