4.5.19

Sunset Boulevard, Gerhart-Hauptmann-Theater, Görlitz

I have kissed thy mouth, Iokanaan, I have kissed thy mouth.


Die belebten Paramount Studios der 1950er verblassen im Hintergrund, als uns der Stummfilm-Star Norma Desmond in die Welt entführt, aus der sie der Tonfilm einst vertrieben hat. Überwältigt von den Reaktionen, für die ihr Auftauchen in den Filmstudios Jahre nach ihrem letzten Erfolg sorgt, schwelgt sie in Erinnerungen an alte Zeiten während sie auf wohlvertrauten Pfaden wandelt: vorbei an der Maske und all den aufregenden Kostümen, die nach ihr rufen. Das Verlangen des ehemaligen Filmstars endlich wieder vor der Kamera zu stehen wird mit jedem Schritt stärker. Wieder von einer Filmcrew umgeben und in Gesellschaft ehemaliger Kollegen sieht sie klar ihre Zukunft vor sich, an die sich nahtlos die schon viel zu lange ruhende Vergangenheit anknüpfen lässt.

Und wenn meine Hände beben
Dann nur deshalb, weil ich fühle
Dies hier ist mein Leben


Würde die Inszenierung von Sunset Boulevard, die dieses Frühjahr im Gerhart-Hauptmann-Theater in Görtlitz läuft, mit dem oben zitieren Lied, Als hätten wir uns nie Goodbye gesagt, enden (kurz nach Beginn des 1. Akts), dann würde ich danach zufrieden nach Hause gehen. Yvonne Reich vermittelt das Verlangen Norma Desmonds nach einer Fortsetzung ihrer Karriere und all den Zauber, den ebenjene mit sich bringen würde, in dieser Szene derart gekonnt, dass ich von diesem Musical in diesem Moment nicht mehr brauchen würde.

Begleitet von Andrew Lloyd Webbers eingängiger Musik, die von einem ca. 30-köpfigen Orchester exzellent gespielt wird, kann man derzeit in Görlitz in Ansgar Weigners Inszenierung von Sunset Boulevard tief in die Gefühlswelten der vielschichtigen Hauptcharaktere dieses Stücks, von denen jeder bis zum Ende undurchschaubar bleibt, eintauchen. Nicht nur die labile Norma Desmond spielt hier ein doppeltes Spiel, sondern auch der arrogante Schriftsteller Joe Gillis (Daniel Eckert), den man trotz seines Talents seine eigene Unbeliebtheit minütlich zu steigern, nicht einfach in die Misanthropen-Schublade stecken kann.

Am „aufregendsten“ sind bei dieser Produktion von Sunset Boulevard die stillen Momente, in denen sich jene Menschen, die im schlechtesten Fall zu keiner Beziehung (sei sie geschäftlich oder privat) fähig sind und im besten Fall wissen, dass sie ebenjene Beziehung im Moment einfach überhaupt nicht brauchen, unfreiwillig nahe kommen: Yvonne Reich und Daniel Eckert dabei beobachten zu können, wie ihre Figuren versuchen, sich selbst treu zu bleiben, und dabei doch ihre Schicksale auf der Suche nach besseren Leben immer weiter ineinander verstricken, ist wahrlich ein Privileg (Träume aus Licht und Ein gutes Jahr). 
Sowohl Norma Desmond als auch Joe Gillis (der zudem als auktorialer Erzähler fungiert), tragen Sunset Boulevard auf ihre ganz eigene Art und Weise: Yvonne Reichs berauschende Verkörperung der exzentrischen Filmdiva und Daniel Eckerts selbstverständliche Darstellung des überheblichen Drehbuchautors sind die unentbehrlichen Eckpfeiler dieser Produktion. Stimmlich lassen beide Darstellenden in diesen Rollen nichts zu wünschen übrig.

Stefan Bley verkörpert als Max von Mayerling die wohl unnahbarste Figur des Stücks und trägt mit einem das Theater bis in den letzten Winkel ausfüllenden Kein Star wird jemals größer sein einen sehr wichtigen Teil zur Mystifikation Norma Desmonds bei.
Auch Anna Gössi, die die (feministisch gesehen) gegen Ende des Stücks etwas undankbare, aber tragende Rolle der Betty Schaefer übernommen hat, spielt durchgehend überzeugend und singt in jeder Szene ausgesprochen präzise  – besonders gelungen ist hier Viel zu sehr, ihr Duett mit Daniel Eckert.


Besonderer Erwähnung neben der phänomenalen Besetzung bedarf noch der Einfallsreichtum des Inszenierungs-Teams, das es geschafft hat, auch herausfordernde Szenen – wie etwa die Auto-Verfolgungsjagd zu Beginn des Stücks – äußerst überzeugend und unterhaltsam zu inszenieren. Auch die Drehbühne mit ihren opulenten und vielseitig nutzbaren Treppenaufgängen wird beständig sehr eindrucksvoll eingesetzt.
Ansgar Weigner hat eine wahnsinnig atmosphärische Inszenierung von Sunset Boulevard auf die Bühne gebracht, in der er erfolgreich einen Bogen zwischen der magischen Stimmung von Billy Wilders Film und dem Bühnenstück von Don Black und Christopher Hampton spannt. Hier können einige inszenatorische Details selbst das Sunset Boulevard-erprobte Publikum noch überraschen.
Karten dafür gibt es auf der Homepage des Gerhart-Hauptmann-Theaters.

Ein großes Lob geht noch an das Gerhard-Hauptmann-Theater, das für alle Sprechszenen polnische Untertitel und für Gesangsszenen sowohl deutsche als auch polnische Untertitel parat hat.

 (c) Gerhart-Hauptmann-Theater

Der deutsche Text dieser Inszenierung ist von Michael Kunze.